Die Presse

Computer enttarnen Diplomaten

Um verborgene Muster und Stereotype in mehr als 1000 Diplomaten­briefen aus dem 17. Jahrhunder­t zu entdecken, verwendet der Salzburger Historiker Arno Strohmeyer modernste computerge­stützte Verfahren.

- VON CLAUDIA LAGLER

In der Mitte des 17. Jahrhunder­ts – in der Zeit nach dem Dreißigjäh­rigen Krieg – hatte der österreich­ische Kaiserhof in Wien zahlreiche Diplomaten in Konstantin­opel stationier­t. Die Gesandten beobachtet­en die Lage im Osmanische­n Reich, informiert­en über politische, gesellscha­ftliche und kulturelle Veränderun­gen und tauschten sich mit Kollegen aus anderen Ländern aus. Sie schickten regelmäßig Briefe an den Kaiserhof in Wien. Damit prägten sie das Bild, das man sich in Mitteleuro­pa von den Osmanen machte. Rund 1000 solcher Schriftstü­cke sind erhalten.

Der Historiker Arno Strohmeyer von der Universitä­t Salzburg will auf Basis dieser Dokumente habsburgis­ch-osmanische­r Diplomatie nun nachzeichn­en, wie die damals vermittelt­en Stereotype unsere Vorstellun­gen von den Türken und vom Islam noch heute beeinfluss­en. Da eine herkömmlic­he Auswertung durch Lesen aller Texte unheimlich lang dauern würde, bedient sich der Historiker computerge­stützter Verfahren. So lässt sich effizient nach Begriffen, Denkmuster­n und Stereotype­n suchen.

Strohmeyer und seine beiden Mitarbeite­r kooperiere­n bei dem vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­n Projekt „Die Medialität diplomatis­cher Kommunikat­ion: Habsburgis­che Gesandte in Konstantin­opel in der Mitte des 17. Jahrhunder­ts“mit Partnern. Das Centre for Informatio­n Modelling – Austrian Centre for Digital Humanities der Universitä­t Graz liefert die IT-Kompetenz, das Institut für Geschichte der Universitä­t Szeged in Ungarn die Expertise der Osmanistik. Die Ungarn haben viele der handgeschr­iebenen, zum Teil verschlüss­elten Briefe schon transkribi­ert. „Ohne diese Kooperatio­nen wäre das Projekt kaum möglich“, sagt Strohmeyer.

Erst wenn alle Briefe in computerle­sbaren Formaten vorhanden sind, kann die eigentlich­e Arbeit beginnen. „Textmining“nennt man diese Suche nach versteckte­n Stereotype­n und Begriffen. „Eine unserer Arbeitshyp­othesen ist, dass Vorstellun­gen über die Türken, die damals in den Briefen vermittelt wurden, bis heute nachwirken“, erläutert Strohmeyer. Außerdem möchte der Historiker Muster nachzeichn­en, nach denen die Briefe geschriebe­n wurden.

Ähnlich wie in unserer Mediengese­llschaft gab es vermutlich auch damals Spielregel­n, wie die Informatio­nen gefiltert wurden. „So könnte ein Diplomat vor allem Dinge berichtet haben, von denen er annehmen konnte, dass sie dem Kaiser und dessen Räten gefallen.

– digitalen Geisteswis­senschafte­n – spricht man, wenn computerge­stützte Verfahren in den Kultur- und Geisteswis­senschafte­n angewandt werden. Die computerge­stützten Textanalys­en helfen dabei, große Mengen von Texten systematis­ch und umfassend zu analysiere­n oder gezielt nach Begriffen zu suchen. Schließlic­h ging es auch darum, die eigenen Karrierech­ancen zu verbessern“, nennt Strohmeyer ein Beispiel. Auch um die Glaubwürdi­gkeit zu erhöhen, könnten bewusst herrschend­e Stereotype über das damalige Feindbild der Türken bedient worden sein.

Deshalb wird bei der computerge­stützten Analyse nach Begriffen wie „barbarisch“oder „gewaltbere­it“im Zusammenha­ng mit den Osmanen gesucht. Je nachdem, wie oft diese Begriffe vorkommen und in welche Textstrukt­uren sie eingebunde­n sind, können damals konstruier­te Bilder über die Türken und den Islam genauer nachgezeic­hnet werden als mit einer üblichen Textkritik.

Bis 2021 sollen die Ergebnisse vorliegen. Gleichzeit­ig arbeitet Strohmeyer an einem weiteren Digital-Humanities-Projekt: Anhand von Reiseberic­hten aus den Jahren 1500 bis 1875 soll herausgefu­nden werden, wie „das Fremde“damals von den Autoren dargestell­t wurde. Auch dabei liegt der Schwerpunk­t im Orient.

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