Das Recht im Wettlauf mit der Technologie
Wer haftet bei einem Unfall mit einem autonomen Auto? Kann man Roboter verklagen? Rechtswissenschaftler begegnen solchen Fragen, indem sie die Rechtssysteme unterschiedlicher Länder vergleichen, erklärt Ernst Karner.
Die Presse: Sie haben in der Vorwoche mit 190 Experten aus 36 Ländern Haftungsfragen in der internationalen Mobilität diskutiert, u. a. bei Flugzeugabstürzen. Welchen Unterschied macht es, ob ein Unglück in Österreich, Belgien oder Bulgarien passiert? Ernst Karner: Wenn Passagiere verunfallen, gibt es durch das Montrealer Abkommen sehr umfassende, einheitliche Regelungen. Wenn ein Flugzeug abstürzt und es kommen Dritte zu Schaden, ist hingegen das Recht des jeweiligen Absturzortes maßgeblich. Dieses ist freilich ganz unterschiedlich. Zwar gibt es für „Bodenschäden“seit 1952 eine Konvention, also ein internationales Abkommen, dem aber kaum jemand beigetreten ist – in Europa nur vier Staaten. Hier besteht sicherlich ein Defizit.
Wie begegnen Sie dem in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit? Der große Vorteil unseres Instituts ist ein nicht nur europäisches, sondern globales Netzwerk von exzellenten Experten. Stellt sich eine komplexe ausländische Rechtsfrage, so versuchen wir deshalb nicht das fremde Recht selbst zu erkunden, sondern fragen etwa für das bulgarische Recht einen Professor aus Sofia, für die Rechtslage in den USA einen aus Har- vard. Diese intensiven Kontakte sind für die Rechtsvergleichung ein unschätzbarer Vorteil. Nur wenn man aktuelle Themen in einem größeren Rahmen vergleicht, sieht man auch, wo der Schuh wirklich drückt.
Was hat Sie heuer überrascht? Vor allem die Bevorzugung des Straßenhalters gegenüber der Eisenbahn. Wenn ein Zug entgleist, weil die Gleise schadhaft sind, haftet der Betreiber der Gleise strikt, das heißt unabhängig von einem rechtswidrigen, schuldhaften Verhalten. Passiert ein Unfall auf einer Autobahn oder Bundesstraße, weil die Straße schlecht ist, wird hingegen nur bei Verschulden, bei Bundesstraßen nur bei besonders gravierenden Fehlern gehaftet. Ist das nicht eine Ungleichbehandlung der Opfer und auch eine Wettbewerbsverzerrung? Dazu kommt die immer stärkere Deregulierung des Marktes . . . Stimmt. Wenn Sie früher einen Zugunfall erlitten haben, ist Ihnen „die“Eisenbahn gegenübergestanden, die von den Gleisen bis zum Zug für alles zuständig war. Sie haben somit immer gewusst, wen Sie klagen müssen. Heute ist die Eisenbahn in verschiedene Unternehmen aufgespaltet, eines für den Verkehr, ein anderes für die Infrastruktur. Verwendet werden überdies häufig Waggons und Lokomotiven ausländischer Firmen. Damit wird es für Geschädigte deutlich komplizierter.
Was bedeutet das autonome Fahren für das Haftungsrecht? Wird durch ein „selbstfahrendes“Auto ein Unfall verursacht, so weiß man häufig nicht, ob der Fahrer einen Fehler gemacht hat, weil er beispielsweise die Sensoren nicht geputzt hat, oder ob die Software des Produzenten versagt hat. In solchen Fällen muss man in vielen europäischen Ländern beide klagen, den Halter und den Produzenten – obwohl der Geschädigte von Beginn an weiß, einen der beiden Prozesse verliere ich sicher. In Österreich und Deutschland ist es hingegen viel einfacher: Man kann immer den Halter des Fahrzeugs klagen, der auf Grund einer Gefährdungshaftung verschuldensunabhängig haftet und hinter dem die Haftpflichtversicherung steht; man hat damit immer einen sicheren Ansprechpartner.
Und das wird so bleiben? Bei uns sicherlich, aber es wird auch auf europäischer Ebene intensiv diskutiert, wie man mit der Haftung von Robotern umgehen soll. Die Gefahren sind ja ganz unterschiedlich und reichen von intelligenten Rasenmähern über selbstfahrende Autos bis zum Exoskelett, das es Gelähmten ermöglicht, zu gehen. Versucht man, das alles im Einzelnen zu regeln, kann das Recht dem rasanten technischen Fortschritt nie standhalten. Man benötigt deshalb allgemeine Regeln, bei denen die bewährten Haftungsprinzipien nicht einfach über Bord geworfen werden. Sonst kommt man leicht auf abstruse Ideen.
Welche zum Beispiel? So wird etwa vorgeschlagen, Roboter mit Rechtspersönlichkeit auszustatten, der Roboter sollte dann selber haften. Das ist schon deshalb abwegig, weil das Recht der Verhaltenssteuerung dient, und das funktioniert eben nur bei Menschen. Auch hat ein Roboter ja kein Vermögen, man müsste ihn erst mit einem solchen ausstatten. Selbst dann würden die Geschädigten aber schlechter gestellt, weil sie ja nur mehr auf das beschränkte Vermögen des Roboters greifen könnten. Schlicht absurd wird es, wenn manche meinen, man solle Roboter bei einem Unfall „zur Strafe“zerstören.
Ihre Forschungserkenntnisse fließen auch in die Praxis ein. Ja, das zeigen die Erfahrungen bei Schock- und Trauerschäden, die nahe Angehörige des bei einem Unfall Getöteten erleiden. Bis zum Jahr 2000 wurden diese „Drittschäden“in Österreich nicht ersetzt. Hier konnten wir mit unseren Arbeiten maßgeblich dazu beitragen, dass eine Rechtssprechungswende eingetreten ist. Schock- und Trauerschäden sind seit der Jahrtausendwende auszugleichen. Österreich war in Europa damit ein Vorreiter, viele andere europäische Länder sind nachgezogen, selbst Deutschland, aber erst im letzten Jahr.
Sollte das europäische Schadenersatzrecht einheitlicher sein? Es gibt großen Anpassungsbedarf, aber momentan stehen andere politische Fragen auf der Tagesordnung. Aber auch bei einer schrittweisen, längerfristigen Entwicklung sind intensive Vorarbeiten nötig, wenn man verhindern will, dass die Rechtsvereinheitlichung in Wahrheit zu einer Rechtsver- schlechterung führt. Es kommt ja nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner an, dem jeder zustimmt, sondern auf die sachgerechteste Lösung. Diese findet man aber nur, wenn man vergleicht und bereit ist, über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Wie sehen Sie die Regelungen in den USA, die ein völlig anderes Rechtsverständnis verfolgen? Bei einem Autounfall bestehen meistens schwer zu beweisende Anspruchsvoraussetzungen und keine ausreichende Versicherungsdeckung. Aber auch klagen ist schwierig. Mir hat ein amerikanischer Anwalt etwa erzählt, dass er solche Prozesse erst ab einem Schaden von mehr als 100.000 Dollar übernimmt, bei einem Arztfehler wird er unter 500.000 Dollar Schaden erst gar nicht tätig, und das ist kein Einzelfall – die Masse der Geschädigten bekommt somit kaum etwas. Wer sich aber in einem Fastfoodlokal mit zu heißem Kaffee verbrüht, erhält „punitive damages“(Strafschadenersatz, Anm.) in Millionenhöhe. Mich erinnert das immer an die „spiegelnden Strafen“des Mittelalters: Wenn man kaum einen Dieb fängt, dann aber doch einen erwischt, muss der Dieb zumindest gevierteilt werden, damit jeder sieht, es passiert etwas. Da ist mir die Rechtslage bei uns und in Europa lieber: Das System ist im Großen und Ganzen effizient, und jeder Geschädigte kann seinen Schaden auch geltend machen.
Das Ziel einer Vereinheitlichung des Rechts ist, dass es für Geschädigte weniger komplex wird. Natürlich. Aber wir schauen dabei nicht nur auf den Geschädigten, sondern auch auf den Schädiger, weil man im Recht stets beide Seiten im Auge behalten muss. Zum einen müssen die Opfer ausreichend geschützt werden, zum anderen dürfen Schadenersatzansprüche aber auch nicht ausufern und ruinös werden. Wir befinden uns eben immer auf der Suche nach der goldenen Mitte, und das ist natürlich ein Weg, der nie zum Abschluss kommt.
(48) ist Direktor des Instituts für Europäisches Schadenersatzrecht der Akademie der Wissenschaften und der Universität Graz. Er versammelte von 5. bis 7. April 2018 Schadenersatzrechtsexperten aus ganz Europa in Wien, um Haftungsfragen der internationalen Mobilität zu diskutieren. Der dort jährlich stattfindende Vergleich europäischer Rechtsordnungen dient dazu, Lösungen für neuartige Problemfelder zu entwickeln.