„So geheim wie möglich“
Drei Tage irrten sie im Schnee durch die Wälder des Mittagskogels, der Felspyramide am westlichen Rand der Karawanken, Anfang November 1944, bis sie endlich auf die Gailtaler Kompanie der slowenischen Partisanen stießen. Seit drei Wochen war der 31-jährige Forstwirt Hubert Mayr, Tiroler Sozialist, Spanienkämpfer und Offizier der britischen Armee, mit seinem zehn Jahre jüngeren Kurier Rudolf Moser aus Dellach im Gailtal auf der Flucht vor der Gestapo. Vom Villgratental über das Drautal und den Weißensee hatten sie vertrauenswürdige Bauern weitergeleitet, bis sie das Partisanengebiet erreichten.
Die Kärntner Nationalsozialisten, an der Spitze Gauleiter Friedrich Rainer und SSFührer Odilo Globocnik, beherrschten über ihr Stammland hinaus ganz Slowenien und Friaul-Julisch Venetien. Doch in der „Operationszone Adriatisches Küstenland“war die Herrschaft für die Kärntner Nazis weniger gemütlich als zwischen Klagenfurt und Lienz. Seit 1941 kämpften die Partisanen der kommunistisch dominierten Osvobodilna Fronta, unterstützt von den westlichen Alliierten, um die Neugründung des 1941 zerschlagenen Slowenien. Seit Herbst 1943 erhoben sich zwei italienische Partisanenformationen, die kommunistisch geführten Garibaldi und die christdemokratischen bis linksliberalen Patrioten der Osoppo, ebenfalls mit westlicher Unterstützung. Bei den Alliierten und bei Österreichern im Exil weckten die Aufstände am südöstlichen Rand des Deutschen Reiches die Hoffnung, in den Donau- und Alpengauen Österreich-patriotischen Widerstandsgeist entfachen zu können.
Doch während Rainer und Globocnik den Widerstand in Slowenien und Friaul nie in den Griff bekamen, war der Transfer nach Österreich im November 1944 weitgehend gescheitert. Jene Exilösterreicher und Wehrmachtsdeserteure, die mit Fallschirmen in Friaul oder Slowenien gelandet waren oder sich dort den alliierten Missionen angeschlossen hatten, waren gefallen, befanden sich in Gestapohaft oder waren wieder evakuiert worden. Nur zwei westliche Offiziere waren noch in Österreich unterwegs: Im östlichen Kärnten, auf der Saualpe, agierte mit einer 80 Mann starken Einheit des slowenischen Kärntner Partisanenverbandes der Brite Alfgar Hesketh-Prichard, ein hoch qualifizierter Agent, der die massive Aufrüstung der Kärntner Partisanen besorgt hatte. Von ihm wissen wir seit Aktenfunden im slowenischen Staatsarchiv 2004, dass er Anfang Dezember 1944 hinter dem Rücken seiner Einheit zum Opfer eines geheimen politischen Mordes im Auftrag der Kommunistischen Partei Sloweniens geworden ist.
Der zweite britische Offizier war Hubert Mayr. Im August 1944 von Friaul nach Oberkärnten eingeschleust, gelang es ihm mithilfe einheimischer Deserteure wie Rudolf Moser und Antifaschisten wie dem Villacher Georg Dereatti, ein Netz an Unterstützern aufzubauen. Für Mitte Oktober erwartete Mayr den Abwurf von britischen Waffen im Villgratental. Sein persönliches Ziel war Innsbruck, eine Heimkehr in revolutionärer Absicht, auf die er hingearbeitet hatte.
Doch die Gestapo deckte seine Organisation auf. Lokale Verhaftungen setzten ein, regelrechte Treibjagden auf Deserteure, Deportationen in Konzentrationslager – das war aus den Akten der NS-Behörden zu rekonstruieren. Hubert Mayr, Rudolf Moser und Georg Dereatti allerdings befanden sich nicht unter den Festgenommenen und Ermordeten. Sie blieben auch nach Kriegsende „verschwunden“. „Am Ende steht: Missing“hieß auch ein erster Bericht über Hubert Mayr im „Spectrum“(16. Oktober 2004). Weg mehr zurück, da die Deutschen große Hinterhalte und Razzien begonnen hatten, und deshalb hatten wir die Absicht, uns den Partisanen anzuschließen“, erklärte sein Gefährte Rudolf Moser am 11. November 1944 Miro Perc-Maks, dem Kommandanten der jugoslawischen Geheimpolizei Ozna beim IX. Partisanenkorps, dessen Kampfgebiet das Küstenland und Oberkrain war.
Der Satz klingt wie eine Rechtfertigung, und er wurde auch nicht unter Verbündeten gesprochen. Denn Hubert Mayr und Rudolf Moser, die sich den Partisanen gegenüber als britische Offiziere mit den Namen George Charles Banks (protokolliert als Panks) und Henry Newman (protokolliert einmal als Henrich Nejuman, einmal als Henry Neuman) vorgestellt hatten, wurden von Partisanenkurieren zwar in das Socatalˇ zum IX. Korps gelotst, dann aber nicht wie gewünscht britischen Verbindungsoffizieren übergeben, sondern von der Ozna festgenommen, jener im Sommer 1944 gebildeten, strikt geheimen „Abteilung für den Volksschutz“, deren Aufgabe die Kontrolle der Partisanen sowie die Identifizierung von inneren und äußeren Feinden der Kommunistischen Partei Jugoslawiens war. Die Verhöre dauerten fünf Tage, vom 11. bis 15. November 1944. Die Protokolle enthalten genaue, zum Teil verfälschte Schilderungen ihrer Widerstandsaktivitäten in Friaul, Osttirol und Kärnten. Es sind die letzten schriftlichen Spuren von Hubert Mayr und Rudolf Moser. Auch Georg Dereatti wurde einige Wochen später intensiv verhört. Unter dem Druck der Befragung schwor er am Ende Hubert Mayr und den Briten ab.
Die Historikerin Ljuba Dornik-Subelj,ˇ über viele Jahre zuständig für das Archiv der Ozna im slowenischen Staatsarchiv, gab in ihrem jüngsten Buch, „Ozna in prevzem oblasti 1944–46“, einen Hinweis, der ein grelles Licht auf das weitere Schicksal von Hubert Mayr und Rudolf Moser, vielleicht auch von Georg Dereatti, wirft: Manche Gefangene habe die Ozna ohne Gerichtsverhandlung exekutiert – und zu ihnen gehörte ein Heinrich Neumann, der Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg gewesen sei und von Miro Perc-Maks verhört worden war. Namentlich verweist sie damit auf Rudolf Moser, aber die biografischen Angaben passen nur zu Hubert Mayr. Ihr Satz begründet einen schlimmen Verdacht: Dass die beiden in der Zentrale der Ozna für das Küstenland, in Gorenja Trebusa,ˇ im Geheimen exekutiert worden sind.
Doch handelte es sich bei den Einvernommenen tatsächlich um die drei verschwundenen Widerstandskämpfer? Bei Hubert Mayr und Georg Dereatti besteht kein Zweifel. Am schwierigsten war es, Rudolf Moser zu erkennen. In britischen Quellen zu ihm fehlten genaue Geburtsdaten, aber das Geburtsdatum aus dem Ozna-Protokoll stimmte mit jenem im Geburtsbuch seiner Heimatpfarre überein. Damit ließ sich die Herkunft aus einer armen, kinderreichen Bauernfamilie rekonstruieren. Zwei ältere und ein jüngerer Bruder fielen als Wehrmachtssoldaten rasch nacheinander zwischen Mai und August 1944. In diesem Sommer arbeitete Rudolf als Hirte auf der Plöckenalm, an der Grenze zu Italien, und er beherbergte Georg Dereatti und Hubert Mayr auf ihren subversiven Grenzgängen. Als er eine Einberufung zur Wehrmacht erhielt, tauchte er mit ihnen ab. Über Nacht sei er verschwunden, erzählt eine Großnichte, die es von ihrem Vater weiß, der mit seinem Onkel Rudi damals auf der Plöckenalm war. Sie hat einen Stapel alter Fotos geerbt. Wir suchen mit der Lupe nach einem