Der Mensch: Ungeeignet für die Welt?
auch.“Jede der Figuren entwickelt ihre eigene Überlebensstrategie nach dem Herausfallen aus jenen Strukturen, die unsere Gesellschaft für die Akkumulation symbolischen wie realen Kapitals vorsieht, also die Berufswelt. Die schlechte Nachricht: Alle kämpfen mit dem Alltag und der Sinnfrage, den Verlusten oder dem nun endgültig Versäumten und Verpassten. Die gute Nachricht: Welcher Lebensentwurf immer gewählt oder einfach passiert ist, letztlich geht es allen gleich.
Dem Mann allerdings meist noch ein bisschen schlechter. Schließlich war die Frau dank der Kinder oder zu betreuender Vorfahren meist immer schon mehr zu Hause und findet sich hier besser zurecht. Aus dem jahrzehntelangen Leid der Doppelbelastung wird der Triumph der Zuständigkeit. Nur, jetzt kommt der Mann dazu, da ist’s schnell voll – und das betrifft nicht nur die Raumnutzung, sondern das Maß des Beziehungsgefüges insgesamt. Außerdem fallen die beruflich meist erfolgreicheren Männer mit der Pensionierung tiefer. Deshalb kehren sie „ständig dorthin zurück, wo sie pensioniert wurden, um dort allen auf die Nerven zu gehen. Bei den Frauen ist das die Ausnahme.“Das allerdings scheint sich gerade zu ändern, schließlich steht die erste Pensionierungswelle jener Frauen an, die ihr Selbstwertgefühl ebenfalls überwiegend aus den beruflichen Karrieren bezogen haben.
Offener bleiben sie jedoch für kollektive Ersatzbeschäftigungen, denn die Frau ist, „ob pensioniert oder nicht, ein Kursmensch“. Auch praktisches Totstellen im gemeinsamen Haushalt ist eine Option; verschwanden alternde Ehepartner einst in der Waschküche und auf dem Wäscheboden bezie- hungsweise zum Werkzeugsuchen im Keller, sind diese Rückzugsflächen im Mittelklassesegment heute oft schon belegt, da sind Sauna, Fitnessraum oder ähnliche Fazilitäten untergebracht.
Bei Schriftstellern kommt zu diesen allgemeinen Unerfreulichkeiten das Abnehmen der Präsenz auf dem Literaturmarkt, und das bedeutet Einkommensverluste. Da im Alter das Ersatzteillager für Augen, Haare, Knie, Zähne et cetera unaufhaltsam größer wird und damit die Instandhaltungskosten steigen, die das Finanzamt nicht als Absatzposten anerkennt, bleibt als Ausweg oft nur ein Nebenjob. Naheliegend, weil ein florierender Markt und dem eigenen Beruf verwandt das Leiten von Schreibseminaren ist. Für den alternden Schriftsteller oft ein psychisches Desaster, und auch ein physisches, denn während die Schreibschüler nach durchzechter Nacht „mäusefit“beim Frühstück auftauchen, liegen dem Schreibseminarleiter die schlaflose Nacht und die Identitätskrise bleischwer in den Knochen.
„Jeder muss auf seine Weise versuchen, über die Runden zu kommen“, und Schreiner untersucht diese typenspezifischen Strategien mit gnadenloser Schärfe und zugleich tröstlicher „So ist der Mensch“-Geste. Positive Energie kann aus der Begeisterung für neues technisches Gerät kommen, aus dem stundenlangen Googeln neuer Rezepte, leidenschaftlichem Gärtnern oder auch aus der Überwindung immer neuer kleiner Wehwehchen. Elixiere können Tabletten sein, Alkohol, magische Objekte aus dem Esoterikkurs, Duftkerzen, Raumsprays, Fitnessprogramme oder spezielle Ernährungskonzepte.
Schreiner beschreibt die erworbenen Eigenheiten im Alltagsverhalten dieser Best Ager nie denunziatorisch und mit viel Witz. Etwa anhand der Frage, was jemand für eine Reise mitnimmt. Es gibt die sparsamen Optimierer und die Reservegarniturenmaximierer. Typologisch sortieren lässt sich auch das Verhalten im Hallenbad. Zwar schwimmen die alten Herren je älter, umso langsamer, aber sie „machen mehr Wellen und schnaufen ungeheuerlich“, während die alten Damen tratschend oder mit Luftpolstern im Nacken gemächlich und sehr ausdauernd ihre Bahnen ziehen. Beides ist dem Ziel, selbst eine ungestörte Bahn zu ergattern, in gleicher Weise abträglich. Die Besserverdiener treibt es auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen heute schon einmal in den Himalaya oder in Urwaldholzhütten, zu fernöstlichen Trekkingtouren, oder wo immer es sich sonst „survivalen“lässt. Das kostet viel Geld, und glücklich können diese Extremurlauber auch kaum sein, denn, was da alles in Kauf genommen wird, das tut der Mensch „doch nur in höchster Not“. Zudem vergrößert es den ökologischen Fußabdruck ganz unnötig. Andererseits, wenn das Wattenmeer mit Stacheldraht vor dem wandernden Menschen geschützt wird, trifft es irgendwie den Falschen; ausgesperrt wird eben der einzelne Mensch und nicht die Raffinerien oder die chemische Industrie.
Das ist kränkend, dabei hat gerade „der norddeutsche Mensch“zuerst damit begonnen, die Joghurtbecher auszuwaschen und lange Autofahrten auf sich genommen, um sie im passenden Plastikcontainer zu entsorgen. „Wahrscheinlich ist der Mensch an sich ungeeignet für die Welt“– er stört. Ohne ihn könnte das Geld in Ruhe arbeiten und die Natur sich erholen oder wäre gar nie zerstört worden.
Schreiners Miniaturen aus den kleinen Leben im zivilisierten Westen halten dabei immer präsent, dass es sich bei all dem um ein Jammern auf hohem Niveau handelt. „Glück gehabt mit meinem Geburtsland – Indien, Pakistan, Brasilien, Nepal oder Bangladesch“, da kostet ein Arbeitssklave heute „knapp 100 Euro, das hat sich in kurzer Zeit amortisiert“, was das Interesse der Profiteure an ihrem „Menschenmaterial“drastisch senkt. Ganze Gesellschaftssysteme wie das unsere beruhen auf dem Wegschauen vom Elend in anderen Weltgegenden. Empathiefähigkeit aber ist eine notwendige Eigenschaft für den Schreibenden. Andererseits: „Wer sich heute nicht abgrenzen kann, ist geliefert“, nicht nur in Sozialberufen. Wird aber der Schriftsteller aus Selbstschutz gefühllos, bleibt nur der Krimi – Empathie mit Gewaltverbrechern ist schließlich nicht gefordert.
Kein Platz mehr Roman. 176 S., geb., € 20,60 (Schöffling Verlag, Frankfurt/Main)
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