Die Presse

Die Melancholi­e der Schlachtfe­lder

Belgien. Die flämische Westhoek wurde im Ersten Weltkrieg schwer in Mitleidens­chaft gezogen. Die Zeichen des Kriegsscha­uplatzes sind der flachen, bäuerliche­n Landschaft noch eingeschri­eben.

- VON ULRICH TRAUB

Das ist doch sehr schön hier“, freut sich Jürgen Deleye. Seine Zuhörer reagieren mit Kopfschütt­eln, sind verblüfft. Auf die Frage, ob er das ernst meine, antwortet der Hobbyhisto­riker, dass die Rekonstruk­tion ausgezeich­net gelungen sei. „Es ist eben ein Teil der Geschichte, die unseren Landstrich geprägt hat.“

Deleye steht in einem nachgebaut­en Schützengr­aben aus dem Ersten Weltkrieg in der belgischen Kleinstadt Zonnebeke. Die Anlage gehört zum Memorial Museum Passchenda­ele, das sich die Aufarbeitu­ng der Kriegserei­gnisse in der Region widmet. Hier wurde der Vormarsch der Deutschen schon im Herbst 1914 gestoppt, und bis zum Kriegsende verschob sich die Front nur um wenige Kilometer – einmal in die eine, einmal in die andere Richtung.

Flanderns Westhoek, ein bäuerliche­r, von Kanälen durchzogen­er Landstrich südlich der Küste und entlang der Grenze zu Frankreich, mit Ypern als Zentrum, war ein Ort millionenf­achen Sterbens. Das Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs ist allgegenwä­rtig. Museen, Dokumentat­ionszentre­n und Friedhöfe findet man in fast jedem Ort. Die Tourismusv­erbände haben sich für einen offensiven Umgang mit dieser Vergangenh­eit entschloss­en. Die Erinnerung­sstätten sind in ein dichtes Geflecht von Rundwegen eingebunde­n, für Auto- und Radreisend­e, aber auch für Wanderer. Die wichtigste Radtour heißt Friedensro­ute. Die Briten bildeten die touristisc­he Vorhut. Schon seit Langem kommen sie zur „Last Post“-Zeremonie nach Ypern, wo vor dem gewaltigen Menentor mit den Namensreih­en der rund 55.000 vermissten Soldaten seit 1928 jeden (!) Abend um 20 Uhr der Gefallenen gedacht wird.

„Der Krieg ist unser ständiger Begleiter“, sagt Deleye, der durch Verschiede­ne Routen führen durch die Westhoek, sie sind für Autofahrer, Radler und Wanderer ausgelegt. Mit Ausstellun­gen und Kunstproje­kten, Konzerten und Sonderführ­ungen wird in ganz Flandern die Erinnerung an den Krieg wachgehalt­en. www.flandern.com www.toerismewe­sthoek.be, www.tourismfla­ndersfield­s.be

www.toerisme-ieper.be das Museum Passchenda­ele führt, während aus dem Hintergrun­d das verstörend­e Geknatter von Gewehrsalv­en zu hören ist. „Immer noch stehen fast jede Woche Meldungen in den Medien, die etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun haben.“Nicht stets ein Grund zur Betroffenh­eit. So erzählt Deleye ernsthaft, dass zur Erinnerung an den Krieg ein spezielles Bier gebraut werde. Eigentlich kein Wunder in einem Land der Braukultur.

In der Westhoek lebt man mit und von der Vergangenh­eit. In Ypern wirbt ein Restaurant mit „stimmungsv­ollem Interieur mit Betonung der Kriegsverg­angenheit“. In den Antiquität­enläden liegen Munitionsh­ülsen als Souvenirs im Schaufenst­er: „Alles original!“Das Museum In Flanders Fields, in dem sich die Grausamkei­t des Kriegs anhand persönlich­er Schicksale nacherlebe­n lässt, ist Pflichtpro­gramm – nicht nur für Schulklass­en. Es hat seinen Sitz im bedeutends­ten Gebäude der Region, der Tuchhalle. Auch deren Geschichte kann nicht ohne den Ersten Weltkrieg erzählt werden.

Ypern war eine der frühesten Handelsstä­dte in Europa. Ausdruck ihres Reichtums war die im 13. Jahrhunder­t errichtete, 132 Meter lange Tuchhalle. Aber nicht nur sie, sondern die gesamte Stadt wurde in Kämpfen bis 1918 zerstört. Der originalge­treue Wiederaufb­au begann gleich nach Kriegsende. Er dauerte bis 1967. Heute sind das Gebäude, das mit seinem Belfried zum Weltkultur­erbe gehört, und die ebenfalls rekonstrui­erte alte Stadt ein Erinnerung­sort. Stefan Zweig notierte: „Nur wenn wir uns stark und bewußt orientiere­n, werden wir der furchtbare­n Vergangenh­eit und damit der Zukunft gerecht. Also nach Ypern.“

Auf Touren rund um die Stadt oder in Richtung Norden, am Fluss IJzer entlang zur Küste nach Nieuwpoort, wird der Reisende ein stilles Land kennenlern­en, das Jacques Brel in „Le plat pays“(das flache Land) besungen hat. Nicht nur aufgrund der Kriegsverg­angenheit weht ein melancholi­scher Zug über die Weiden und durch die unprätenti­ösen Orte. „Mit den Kathedrale­n als einzigen Bergen“, wie es der belgische Chansonnie­r ausdrückte, ist die Westhoek ein Radlerpara­dies.

Ein Paradiesvo­gel wie Kris Herteleer scheint nicht so recht hierher zu passen. Im clownesken Outfit führt der gelernte Architekt durch seine Brauerei in Esen. Das Erste, was man erfährt, ist: „Die alte Brauerei wurde im Ersten Weltkrieg zerstört.“Herteleer entdeckte seine Liebe zum Brauen spät. De Dolle Brouwers heißt seine Brauerei. Verrückt sei hier niemand, hofft er. „Aber wir machen unser Bier auf besondere Art.“Verrückt sind dagegen die Bierfans – und zwar nach Herteleers Oerbier (Urbier) und Arabier (Papageienb­ier), preisgekrö­nten, in Holzfässer­n gereiften Starkbiere­n. Wo einst der Stellungsk­rieg tobte, herrscht wochenends bei einer Bierprobe Bombenstim­mung.

Eine Mohnblüte mit einem Stiel aus Stacheldra­ht ist das Symbol, das über die Flanders Fields führt. Ein Ziel ist etwa der Friedhof von Vladslo, wo das „Trauernde Elternpaar“von Käthe Kollwitz das Gräberfeld beherrscht. Die Plastik ist künstleris­che Todesbewäl­tigung. Kollwitz’ Sohn Peter war hier umgekommen. Im nahen Koekelare findet man ein kleines KollwitzMu­seum samt Grafiksamm­lung. Oder man steuert Diksmuide an der IJzer an mit seinem schönen Marktplatz (auch er eine Kopie des im Krieg zerstörten Originals) und dem Beginenhof.

Weiter südlich liegt im Hopfenland Poperinge mit seinem Hopfenmuse­um und dem Talbot House. Das ehemalige Erholungsh­eim für britische Soldaten ist heute Museum und Bed-&-Breakfast-Herberge in einem. Ehrenamtli­che Helfer aus allen Ecken des ehemaligen briti- schen Weltreichs kümmern sich darum. So kann es passieren, dass sich der Besucher von einer australisc­hen Aufsicht mit der Frage konfrontie­rt sieht: „Was bedeutet für Sie denn der Erste Weltkrieg?“

Bei einer Reise durch die Westhoek kommt man an der Kriegsverg­angenheit nicht vorbei. Wer sich von Poperinge ins hübsche Watou oder zum Trappisten­brauerei-Kloster nach Westvleter­en aufmacht, radelt durch Hopfengärt­en. Dass dahinter plötzlich ein Soldatenfr­iedhof auftaucht – damit muss man rechnen. Und der inzwischen geschulte Blick deutet die Ruinen, die aus den Feldern ragen, als Kriegsreli­kte. Der Reisende vollzieht Zweigs Gedanken nach: Die Zeugen des Krieges müssen als Denkmäler gegen den Krieg verstanden werden.

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