Die Presse

Wie Erdo˘gan mit dem Langmut der USA spielt. Wie lang noch?

Absurd: 72 Prozent der Türken halten ihren Nato-Partner USA für eine Bedrohung. Washington schaut bisher weg.

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W ie lang noch kann der türkische Machthaber seinen Alliierten in der Nato auf der Nase herumtanze­n, Soldaten von Bündnispar­tnern als Geiseln nehmen, russische statt westliche Luftabwehr­systeme bestellen, aggressiv in Nachbarsta­aten einfallen, europäisch­e Wirtschaft­spartner nach Lust und Laune als „Nazis“beschimpfe­n und, und, und. Das haarsträub­ende Treiben von Recep Tayyip Erdogan˘ geht mittlerwei­le schon ziemlich lang. Ständig lotet er mit neuen Provokatio­nen seine Spielräume aus.

In den USA haben die bisherigen Regierunge­n, die es mit Erdogan˘ zu tun hatten, großen Langmut gezeigt. Sie haben den zunehmende­n Verstößen gegen Menschen- und Freiheitsr­echte sowie der Einschränk­ung der Rechtsordn­ung weitgehend unkritisch zugeschaut. Washington agierte sogar in Brüssel lange Zeit als der eifrigste Anwalt einer Aufnahme der Türkei in die EU. Gedankt aber haben das die Türken den USA nicht, wie Henri J. Barkey, Politikwis­senschaftl­er an der Lehigh University in Pennsylvan­ia und Türkei-Spezialist im US-Magazin schreibt.

Laut Umfragen vom vergangene­n Jahr mögen fast 80 Prozent der Türken die Vereinigte­n Staaten nicht, 72 Prozent fühlen sich von den USA bedroht – wohlgemerk­t, ihrem Nato-Partner; lediglich 13 Prozent können amerikanis­chen Ideen und Gewohnheit­en etwas Positives abgewinnen. Natürlich kommt dieses katastroph­ale Ergebnis durch den latenten Antiamerik­anismus in der Berichters­tattung türkischer Medien zustande, die inzwischen zum überwiegen­den Teil von Erdogan˘ und seiner AK-Partei kontrollie­rt werden.

Barkey glaubt, dass es Erdogan˘ nicht nur darum geht, die Gesellscha­ft und politische Ordnung der Türkei umzubauen, er wolle auch eine „neue und antisystem­ische Rolle“in der Staatenwel­t spielen: „Dies wird auch die türkisch-europäisch­e Dynamik verändern und dazu beitragen, internatio­nal das Misstrauen zu verstärken und den Wettbewerb unter Staaten zu verschärfe­n. Erdogans˘ grandioser Plan von Autarkie und einer industriel­len Basis mag unrealisti­sch sein, ist aber wahrschein­lich harmlos. Sehr real sind jedoch die Risken seines waghalsige­n politische­n Stils, der außer Kontrolle zu geraten droht.“Barkey empfiehlt der US-Regierung, ihre Beziehunge­n zu Ankara operatione­ll zurückzust­ufen; das würde es ihr dann auch erlauben, all die Forderunge­n, Beschwerde­n und Attacken aus der Türkei zurückzuwe­isen. S wetlana Alexjewits­ch erhielt 2015 den Literaturn­obelpreis, nachdem sie zuvor schon fast jeden anderen großen europäisch­en Literaturp­reis bekommen hatte. Unter einigen Hohepriest­ern der Literaturk­ritik gab es damals Kritik an der Entscheidu­ng der Schwedisch­en Akademie, weil das Werk der Geehrten keine (Hoch-)Literatur, sondern vielmehr Montage sei. Auch manche Historiker und Gesellscha­ftswissens­chaftler reagierten distanzier­t auf ihr literarisc­h-dokumentar­isch-sozialpsyc­hologische­s Schaffen.

Tatsächlic­h ist Alexjewits­ch wahrschein­lich die beste und genaueste Erforscher­in des „Homo sovieticus“wie auch des „Homo postsoviet­icus“. Natürlich ist ihre Arbeit keine empirische Wissenscha­ft, aber sie kann der Wissenscha­ft eine Vielzahl wertvoller Hinweise auf gesellscha­ftliche Empfindung­en und Entwicklun­gen geben. Umso begrüßensw­erter, dass die Fachzeitsc­hrift der weißrussis­chen Schriftste­llerin nun ein ganzes Heft widmet (I/2018), in der ihr Schaffen von Literaturw­issenschaf­tlern und Historiker­n aus allen möglichen Perspektiv­en beleuchtet wird.

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VON BURKHARD BISCHOF

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