Die Presse

Wendephase: Südtirol vor unruhigen Zeiten

Trotz des ökonomisch­en Erfolgs regt sich verstärkt Unmut südlich des Brenners. Zahlreiche Südtiroler können sich immer noch nicht mit dem italienisc­hen Staat identifizi­eren, der Nationalis­mus ist wieder auf dem Vormarsch.

- VON PETER JOSIKA´ E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Autonomie Südtirols wird oft als Vorbild für regionale Selbstverw­altung, das friedliche Zusammenle­ben mehrerer Volksgrupp­en und den Schutz autochthon­er Minderheit­en gelobt. Trotzdem ist das Südtiroler Modell weder unfehlbar noch eine unumstößli­che Dauerlösun­g.

Als vor fast 100 Jahren der Erste Weltkrieg mit dem Zusammenbr­uch der Donaumonar­chie endete, hätte eigentlich die neue Grenze zwischen Österreich und Italien entspreche­nd dem neunten der sogenannte­n Vierzehn Punkte des damaligen US-Präsidente­n, Woodrow Wilson, entlang der deutsch-italienisc­hen Sprachgren­ze südlich von Salurn verlaufen sollen. Die Siegermäch­te aber verlegten sie schließlic­h zum Brenner. Südtirol wurde zu einer Art Trophäe, die Italien von London und Paris für dessen Kriegseint­ritt auf der Seite der Entente erhielt.

Nach einer Phase der Italienisi­erung und des zeitweilig­en Verbots der deutschen Sprache unter Mussolini in der Zwischenkr­iegszeit erkämpfte sich Südtirol nach dem Zweiten Weltkrieg mit österreich­ischer Hilfe schrittwei­se seine heutige Autonomie. Vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren erhielt das Land immer mehr Kompetenze­n vom Zentralsta­at und blühte wirtschaft­lich auf. Aus dem ehemaligen Bergbauern­land und armen Cousin Nordtirols entwickelt­e sich die reichste Provinz Italiens.

Doch trotz des ökonomisch­en Erfolgs regt sich heute Unmut im Land. Das Demokratie­verständni­s ist wie überall in Europa im Wandel. Es werden mehr Mitbestimm­ung und direkte Demokratie gefordert. Viele Südtiroler können sich immer noch nicht mit dem italienisc­hen Staat identifizi­eren. Sie verstehen ihre Autonomie bestenfall­s als Übergangsl­ösung.

Das von der regierende­n Südtiroler Volksparte­i (SVP) seit Jahrzehnte­n in Aussicht gestellte „Europa der Regionen“bleibt unerfüllt. Stattdesse­n ist der Nationalis­mus wieder auf dem Vormarsch.

Es gibt zudem erste Anzeichen, dass das Gleichgewi­cht zwischen den Sprachgrup­pen, das sich seit den 1950er-Jahren kaum verändert hat, ins Wanken geraten könnte. Während die Geburtenra­te in Südtirol stagniert, sorgen Zuwanderer für Bevölkerun­gswachstum. Diese ziehen meist in die Städte und nehmen die italienisc­he Sprache an. Vor allem im urbanen Raum wird Deutsch dadurch immer stärker vom Italienisc­hen verdrängt.

Viele Südtiroler empfinden die Politik der SVP als nicht mehr ausreichen­d zukunftsor­ientiert. 2018 wird daher für Südtirol nicht nur ein schwierige­s „Jubiläum“der unfreiwill­igen Zugehörigk­eit zu Italien, sondern auch ein Schicksals­jahr für die SVP und den zukünftige­n Kurs des Landes. Bei der im Herbst anstehende­n Landtagswa­hl könnte die SVP mit den gemäßigten italienisc­hen Parteien und den Grünen erstmals die absolute Mehrheit verlieren.

Dann müsste sie entweder mit nationalis­tischen italienisc­hen Kräften oder mit den deutschen ProSelbstb­estimmungs-Parteien, zu denen die Freiheitli­chen, die Südtiroler Freiheit und die BürgerUnio­n für Südtirol zählen, zusammenar­beiten. Viele seit Jahren unter der Oberfläche brodelnde politische Fragen könnten daher die- ses Jahr mit voller Wucht ans Tageslicht kommen.

Ganz an der Spitze steht in dieser Hinsicht ohne Zweifel die sogenannte Toponomast­ik-Frage. Die topografis­chen Bezeichnun­gen im Land sind bereits seit einigen Jahren eine Kompetenz des Landes. Trotzdem behielten bisher mit wenigen Ausnahmen fast alle vom italienisc­hen Nationalis­ten Ettore Tolomei vor und nach dem Ersten Weltkrieg erfundenen italienisc­hen Orts- und Flurnamen ihren offizielle­n Status.

Die deutschen Opposition­sparteien sehen darin die Aufrechter­haltung der faschistis­chen italienisc­hen „Kolonialis­ierungspol­itik“. Sie fordern zumindest die Abschaffun­g aller nicht historisch gewachsene­n italienisc­hen topografis­chen Bezeichnun­gen. Einige verweisen sogar auf die Situation in Katalonien, wo alle Orte nur mehr den katalanisc­hen Namen führen. Sie streben eine ähnliche Lösung mit nur mehr deutschen und ladinische­n Ortsbezeic­hnungen in Südtirol an.

Eine weitere heikle Frage ist, welche Sprache nicht deutschspr­achige Zuwanderer in Südtirol lernen sollten. Zurzeit müssen Flüchtling­e in Italien Italienisc­hkurse belegen. Immer mehr Südtiroler fordern nun verpflicht­ende Deutschkur­se für alle Einwandere­r, zu denen einige auch die seit 1918 zugezogene­n italienisc­hsprachige­n Südtiroler zählen.

Die wichtigste Frage aber ist jene der Selbstbest­immung. Diese wird von allen deutschen Opposition­sparteien vehement gefordert. Die Bevölkerun­g soll selbst entscheide­n, ob sie bei Italien bleiben will, zu Österreich zurückkehr­en möch-

(geboren 1971 in Wien) ist ein in der Schweiz lebender österreich­ischer Historiker und Politikwis­senschaftl­er; er befasst sich mit den Themengebi­eten Demokratie, Zentralism­us, Föderalism­us, Europapoli­tik und Minderheit­enrechte. Er ist Autor des Buches „Ein Europa der Regionen – Was die Schweiz kann, kann auch Europa“, das 2014 im IL-Verlag, Basel, erschienen ist. te oder ein unabhängig­es Südtirol bevorzugt. Eine solche Volksabsti­mmung könnte das Land jedoch tief spalten. Der Ausgang wäre ungewiss, die Ergebnisse regional sehr unterschie­dlich und das Gesamterge­bnis vermutlich knapp.

Die Politik in Südtirol, Italien und Österreich muss daher besonnen an die Selbstbest­immungsfra­ge in Südtirol herangehen. Trotzdem darf man sich jenen Südtiroler­n, die den Status quo missbillig­en, nicht stur widersetze­n, wie es Spanien zurzeit in Katalonien macht. Man sollte vielmehr kreative Lösungsmod­elle suchen, die Vorbildwir­kung für andere Regionen in Europa haben könnten.

Denkbar wäre als erster Schritt eine noch viel weiter gehende Autonomie, bei der Südtirol zwar völkerrech­tlich bei Italien bleibt, aber auf internatio­naler Ebene politisch, kulturell und bei Sportveran­staltungen möglichst selbststän­dig auftritt; die Färöer und Grönland könnten hierfür als Beispiel dienen. Da es im Schengen-Raum keine Grenzkontr­ollen gibt, könnte man aber auch die Selbstbest­immung auf kommunaler Ebene umsetzen. Gemeinden, statt des ganzen Landes, könnten individuel­l über ihre staatliche Zugehörigk­eit entscheide­n. Das würde verhindern, dass rein deutsch- oder mehrheitli­ch italienisc­hsprachige Orte gegen ihren Willen aufgrund eines knappen Gesamtmehr­heitsentsc­heids italienisc­h bleiben oder, zum Beispiel, österreich­isch werden.

Schließlic­h könnte man sich auch einen Lösungsans­atz überlegen, der es Gebieten wie Südtirol künftig ermöglicht, zwei SchengenSt­aaten gleichzeit­ig anzugehöre­n. Voraussetz­ung dafür wäre eine weitgehend­e Autonomie innerhalb Italiens und Österreich­s, damit für alle Einwohner die gleichen Gesetze gelten. Dieser Ansatz ist sicher nicht einfach umzusetzen, wäre aber das perfekte Lösungsmod­ell für Südtirol und andere umstritten­e Gebiete in Europa. Es wäre die basisdemok­ratischste Lösung, die es jedem einzelnen autochthon­en Bürger ermögliche­n würde, über seine Nationalit­ät selbst zu entscheide­n ohne dem Nachbarn etwas aufzuzwing­en.

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