Flüchtlinge als Ersatzproletariat?
Jetzt will auch Slavoj Ziˇˇzek kein Marxist mehr sein – und kritisiert die Haltung der Linken zur Migration. „Der westliche Marxismus war ständig auf der Suche nach einem revolutionären Subjekt.“
Man ist ja einiges an Wendungen gewohnt vom Popphilosophen Slavoj Zˇizˇek, er hat zur Reaktualisierung Lenins und der Diktatur des Proletariats aufgerufen, Stalin-Witze erzählt, Paulus und den leidenden Gott gepriesen, die liberale Utopie verworfen, all das und viel mehr in hoher verbaler Fließrate. Doch bekennender Marxist blieb er immer – bis jetzt. In der „Neuen Zürcher Zeitung“schreibt er: „Der einzige Weg, Treue gegenüber Marx zu bewahren, besteht darin, sich vom Marxismus zu verabschieden. Was es dagegen braucht, ist eine Wiederholung von Marxens Gründungsgestus – eine Antwort auf die Frage nach dem Gemeinsamen im Leben aller Menschen.“
Nun, dieses Bekenntnis würde jeder „NZZ“-Leitartikler unterschreiben, wohl auch Zˇizˇeks Erklärung, dass „die Gemeingüter der Gemeinschaft gehören“. (Strittig ist halt, was Gemeingut sein soll, und was nicht.) Spannender ist, wie Zˇizˇek seine Kritik an der Haltung mancher Linken zur Migration verschärft. „Der westliche Marxismus war ständig auf der Suche nach einem revolutionären Subjekt“, schreibt er. „Im 20. Jahrhundert mussten zuerst Drittweltbauern als Proletarier herhalten, dann Studenten und Intellektuelle und zuletzt die Abgehängten und Ausgeschlossenen. Im 21. Jahrhundert macht eine neue Kategorie die Runde: die Flüchtlinge. Viele Marxisten glauben ernsthaft, dass nur der Zufluss einer großen Anzahl von Flüchtlingen die europäische radikale Linke wiederbeleben könne.“Diese Haltung scheine ihm „zutiefst obszön und zynisch“: „Eine Revolution lässt sich nicht an andere Agenten outsourcen.“
Diese Kritik erinnert an jene, die der liberale US-Politologe Francis Fukuyama – dessen „Ende der Geschichte“(1992) auch schon länger hinter ihm und uns liegt – unlängst in der „NZZ“so zugespitzt hat: „In Frankreich begann die Linke, Mus- lime als die neuen Proletarier zu adoptieren.“
Zˇizˇek wendet sich damit jedenfalls scharf von der tatsächlich skurrilen Theorie ab, die Michael Hardt und Antonio Negri 2002 in „Empire“geprägt haben. Sie schwärmten darin von einer „Multitude“aus Heimatlosen, einer „neuen Horde von Nomaden“, die in „biopolitischer Selbstorganisation“das kapitalistische Imperium erschüttern sollen; wie sie das tun sollen, darüber las man nichts Klares. „Empire“war in den Nullerjahren vor allem unter Globalisierungskritikern und Anhängern der „Occupy“-Bewegung hoch geschätzt; auch Zˇizˇek nannte es ein „kommunistisches Manifest unserer Zeit“.
Davon will er jetzt nichts mehr wissen. Jetzt schreibt er: „Kommunismus ist nicht mehr der Name einer Lösung, sondern der eines Problems – des Problems der Gemeingüter in all ihren Dimensionen.“Wenn das so ist, reden alle gern, oft und nett über den Kommunismus.