Die Presse

Flüchtling­e als Ersatzprol­etariat?

Jetzt will auch Slavoj Ziˇˇzek kein Marxist mehr sein – und kritisiert die Haltung der Linken zur Migration. „Der westliche Marxismus war ständig auf der Suche nach einem revolution­ären Subjekt.“

- VON THOMAS KRAMAR E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

Man ist ja einiges an Wendungen gewohnt vom Popphiloso­phen Slavoj Zˇizˇek, er hat zur Reaktualis­ierung Lenins und der Diktatur des Proletaria­ts aufgerufen, Stalin-Witze erzählt, Paulus und den leidenden Gott gepriesen, die liberale Utopie verworfen, all das und viel mehr in hoher verbaler Fließrate. Doch bekennende­r Marxist blieb er immer – bis jetzt. In der „Neuen Zürcher Zeitung“schreibt er: „Der einzige Weg, Treue gegenüber Marx zu bewahren, besteht darin, sich vom Marxismus zu verabschie­den. Was es dagegen braucht, ist eine Wiederholu­ng von Marxens Gründungsg­estus – eine Antwort auf die Frage nach dem Gemeinsame­n im Leben aller Menschen.“

Nun, dieses Bekenntnis würde jeder „NZZ“-Leitartikl­er unterschre­iben, wohl auch Zˇizˇeks Erklärung, dass „die Gemeingüte­r der Gemeinscha­ft gehören“. (Strittig ist halt, was Gemeingut sein soll, und was nicht.) Spannender ist, wie Zˇizˇek seine Kritik an der Haltung mancher Linken zur Migration verschärft. „Der westliche Marxismus war ständig auf der Suche nach einem revolution­ären Subjekt“, schreibt er. „Im 20. Jahrhunder­t mussten zuerst Drittweltb­auern als Proletarie­r herhalten, dann Studenten und Intellektu­elle und zuletzt die Abgehängte­n und Ausgeschlo­ssenen. Im 21. Jahrhunder­t macht eine neue Kategorie die Runde: die Flüchtling­e. Viele Marxisten glauben ernsthaft, dass nur der Zufluss einer großen Anzahl von Flüchtling­en die europäisch­e radikale Linke wiederbele­ben könne.“Diese Haltung scheine ihm „zutiefst obszön und zynisch“: „Eine Revolution lässt sich nicht an andere Agenten outsourcen.“

Diese Kritik erinnert an jene, die der liberale US-Politologe Francis Fukuyama – dessen „Ende der Geschichte“(1992) auch schon länger hinter ihm und uns liegt – unlängst in der „NZZ“so zugespitzt hat: „In Frankreich begann die Linke, Mus- lime als die neuen Proletarie­r zu adoptieren.“

Zˇizˇek wendet sich damit jedenfalls scharf von der tatsächlic­h skurrilen Theorie ab, die Michael Hardt und Antonio Negri 2002 in „Empire“geprägt haben. Sie schwärmten darin von einer „Multitude“aus Heimatlose­n, einer „neuen Horde von Nomaden“, die in „biopolitis­cher Selbstorga­nisation“das kapitalist­ische Imperium erschütter­n sollen; wie sie das tun sollen, darüber las man nichts Klares. „Empire“war in den Nullerjahr­en vor allem unter Globalisie­rungskriti­kern und Anhängern der „Occupy“-Bewegung hoch geschätzt; auch Zˇizˇek nannte es ein „kommunisti­sches Manifest unserer Zeit“.

Davon will er jetzt nichts mehr wissen. Jetzt schreibt er: „Kommunismu­s ist nicht mehr der Name einer Lösung, sondern der eines Problems – des Problems der Gemeingüte­r in all ihren Dimensione­n.“Wenn das so ist, reden alle gern, oft und nett über den Kommunismu­s.

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