Die Asche von Adolf Eichmann
Israel. Michael Goldmann-Gilad kam im Oktober 1948 in Haifa an. Anfangs wollte keiner etwas vom Holocaust wissen, erinnert er sich.
Ein Holocaust-Überlebender spricht über seine Leiden durch die Nazis und sein neues Leben in Israel.
Jerusalem. Im Sommer 1939 war die Welt von Michael Goldmann noch in Ordnung. Der 14-Jährige lebte mit seiner Familie im oberschlesischen Kattowitz und träumte davon, eines Tages den jüdischen Staat in Palästina mit aufzubauen. Michaels Vater besaß ein Milchgeschäft, in dem auch der große Bruder arbeitete. „Es ging uns gut“, sagt der 90-Jährige, der später den Namen Goldmann-Gilad annahm – bis zum Einmarsch der deutschen Truppen. Mehr als 70 seiner Familienangehörigen sind von den Nazis ermordet worden. Übrig blieben nur die zwei Brüder.
„Als ich in Haifa mit dem Schiff ankam, hatte ich das Gefühl, zu Hause zu sein“, sagt er in fließendem Deutsch über den Beginn seines zweiten Lebens im Oktober 1948 – nur wenige Monate nach der Staatsgründung, die Israel bis zum Samstagabend mit offiziellen Zeremonien, Feiern und Strandpartys zelebriert. Trotz der Euphorie schlich sich auch bald Enttäuschung ein. Denn der junge Staat wollte von den Erlebnissen der ehemaligen KZ-Häftlinge zunächst nichts wissen. Zum ersten Mal hatten die Juden eine Nation, und daraus bezogen sie ein neues Selbstverständnis: Selbstbewusst und kämpferisch – so sah sich die Pionier-Generation. Die Diaspora, das Schtetl oder die Verfolgten des NSRegimes spielten kaum eine Rolle.
Als Überlebender des Holocausts schwieg man lieber. „Ich war enttäuscht, aber ich konnte es auch verstehen: Diese Geschichten, all das, was wir erlebt hatten, war ja wirklich unglaublich.“Als ihn Jahre später sein Sohn auf die Nummer an seinem Unterarm ansprach, sagte er: „Das ist die Tele- fonnummer meines Büros.“Erst im Lauf des Prozesses gegen den Chefplaner der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, 1961 begannen die Überlebenden, sich zu öffnen.
Goldmann-Gilad war für die Ermittlungen über die Vernichtungslager im Osten zuständig. Als Polizist arbeitete er dem Chefkläger Gideon Hausner und dessen Stellvertreter Gabriel Bach zu. „Der Prozess war für mich nichts Persönliches. Ich war Untersuchungsbeamter und selbst nicht Zeuge.“Dass die Verhandlung später seine Geschichte ans Licht brachte, war purer Zufall.
Sadismus des SS-Führers
Der Zahnarzt Buzminsky sagte zum Ghetto Przemysl´ aus, in dem auch Goldmann zeitweilig als Zwangsarbeiter inhaftiert war. Das Lager stand unter dem Kommando des für seinen Sadismus berüchtigten SS-Oberscharführers Josef Schwammberger, zu dessen üblichen Strafmaßnahmen Schläge mit einer Hundeleine zählten. „Die Lagerinsassen wurden auf den Hof gerufen, um zuzusehen, wie Schwammberger einem Buben 80 Hiebe versetzte“, sagte Buzminsky und zeigte auf Goldmann-Gilad. „Es war der Beamte, der neben Herrn Hausner sitzt.“
Gerichtsreporter Chaim Guri erinnerte sich an den Fall. „Wir sitzen jeden Abend zusammen und sichten die Dokumente für den nächsten Prozesstag. Nur über dich selbst hast du nie etwas erzählt“, soll Ankläger Hausner zu Goldmann-Gilad gesagt haben. Niemand habe ihm glauben wollen, antwortete Goldmann. Niemand, nicht einmal seine Frau, habe von den 80 Hieben gewusst. „Und das war der 81. Schlag, den du bekommen hast“, sagte der Widerstandskämpfer Antek Zuckermann.
Mit dem Eichmann-Prozess brach vieles auf. Davor sei ein „unausgesprochener Vorwurf“gegen Holocaust-Überlebende in der Luft gelegen, erzählt Goldmann-Gilad: „Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Warum habt ihr nicht gekämpft?“Die Zeugenaussagen machten klar, „dass für uns jeder Tag ein Kampf war, an dem wir mit unserem Überleben Widerstand leisteten“. Manchmal sei das Leben schlimmer als der Tod.
Dem KZ-Kommandanten Schwammberger wurde erst 1991 in Stuttgart der Prozess gemacht. Dort sagte auch Goldmann-Gilad aus. Die 80 Hiebe waren die Strafe für eine Sabotageaktion. Goldmann und einige junge Männer versteckten nach der Wohnungsräumung die Bücher eines verhafteten Juden. Es war ein heißer Tag im Sommer 1943. Schwammberger griff den jungen Goldmann an und fragte, wem er die Bücher verkauft habe. „Ich erfand eine Geschichte, aber er glaubte mir nicht und befahl: ,Den Sessel holen.‘“
Todesschuss nach 50 Hieben
Das war die Bank, auf der er auf die Häftlinge einschlug. Üblich seien 25 Schläge gewesen und anschließend die Verlegung in das Lager für die nicht arbeitsfähigen Insassen, die nach und nach in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. Nach 50 Schlägen kam gewöhnlich der Todesschuss. Goldmann zählte, fiel aber vor Schmerz wiederholt in Ohnmacht.
„Meine Freunde erzählten mir später, wie oft er zugeschlagen hatte.“Schwammberger soll vor lauter Anstrengung müde geworden und ins Schwitzen gekommen sein. Anschließend sagte er: „Aufstehen!“Goldmann-Gilad weiß bis heute nicht, woher er die Kraft nahm. Schwammberger forderte: „In drei Minuten sind die Bücher hier.“Die Buben rannten zur Schlosserei und holten die Anleitung für den Schienenbau. „Dann schlug er noch einmal zu und rief: ,Hau ab!‘.“
Nicht ein einziges Mal sei Goldmann-Gilad während der Verhöre Eichmanns der Gedanke an Rache gekommen. „Die Sache war viel zu groß.“Im Dezember 1962 fiel das Urteil: Tod durch den Strang. Fünf Monate später wurde Eichmann in der eigens für ihn geschaffenen Hinrichtungszelle erhängt. Zwei junge Gefängniswärter drückten gleichzeitig auf die Knöpfe zum Öffnen der Klappe. Bis heute ist unklar, welcher der beiden Eichmanns Henker war.
Die sterblichen Überreste wurden im Hof der Haftanstalt verbrannt. Es sollte kein Grab, keine Pilgerstätte geben. GoldmannGilad bekam den Auftrag, die Asche ins Meer zu streuen. Noch vor Sonnenaufgang nahm er die Urne und fuhr gut zwölf Seemeilen weit hinaus, um sicherzustellen, dass die Asche nicht auf israelischem Hoheitsgebiet landen würde.
„Nie wieder Opfer“, die Lehre, die die Juden aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben, „das begann vor allem nach dem Eichmann-Prozess“. Dies ist Staatsräson in Israel. In blau-weiße Fahnen gehüllt besuchen jährlich Tausende israelische Gymnasiasten die NS-Konzentrations- und Vernichtungslager. Die von den Schulen organisierten Fahrten dienen auch der Vorbereitung auf den Militärdienst der jungen Israelis.