Die Presse

Probleme in der Wiener Psychiatri­e

Gesundheit. Im Otto-Wagner-Spital sorgt derzeit ein Todesfall für einen Rechtsstre­it. Für die Belegschaf­t keine Ausnahme, sondern ein Symptom für strukturel­le Probleme der psychiatri­schen Anstalt als Folge der Dezentrali­sierung.

- VON KÖKSAL BALTACI

Zu wenig Personal, Dezentrali­sierung und andere Schwierigk­eiten haben zu einem Qualitätsv­erlust geführt.

Wien. Am 11. Februar 2016 wurde in einem Teich auf dem Gelände des Otto-Wagner-Spitals die Leiche eines Patienten gefunden. Laut Obduktions­bericht ist er ertrunken, Fremdversc­hulden wird ausgeschlo­ssen. Unter welchen Umständen der Mann, Mitte 20, der an paranoider Schizophre­nie litt, in den Teich fiel, ist bis heute unklar und Gegenstand eines Rechtsstre­its mit dem Wiener Krankenans­taltenverb­und (KAV).

Denn die Familie des Patienten wirft dem Spital vor, nicht genügend Maßnahmen getroffen zu haben, damit er die Station bzw. das Spital nicht verlassen kann. Vor allem angesichts der Vorgeschic­hte des Verstorben­en, bei dem Selbstund Fremdgefäh­rdung bestand und der bereits wiederholt in mehrwöchig­en stationäre­n Behandlung­en war, bei denen er immer wieder versuchte, die Station zu verlassen.

„Trotz der dokumentie­rten Fluchtvers­uche hat man nicht dafür gesorgt, dass der Mann die notwendige Medikation einnimmt und das Spital nicht verlassen kann“, sagt der Anwalt der Familie, Kazim Yilmaz. Seiner Meinung nach hat das Spital grob fahrlässig reagiert.

Regelmäßig­er Alarm

Mit den Anschuldig­ungen konfrontie­rt, teilt ein Sprecher des KAV lediglich mit, dass „in Wien der Grundsatz der offenen Psychiatri­e gilt, das heißt, die Türen der Abteilunge­n sind nicht versperrt“. Was natürlich stimmt. Dennoch hat das Personal die Möglichkei­t, die Patienten beispielsw­eise mit Fixierunge­n oder Medikament­en davor zu schützen, sich selbst zu gefährden. Auf Fragen, warum das in diesem Fall nicht ausreichen­d geschehen ist, wollte man seitens des KAV nicht Stellung nehmen.

Todesfälle nach Unfällen und Suiziden sind in einer psychiatri­schen Abteilung nie ganz auszuschli­eßen. „Presse“-Recherchen zufolge könnte aber ein beträchtli­cher Teil dieser Fälle auf strukturel­le Probleme der Anstalt und des Gesamtkonz­epts der psychiatri­schen Versorgung in Wien (mit kurzen Aufenthalt­sdauern, ambulanter vor stationäre­r Behandlung und eingeschrä­nkten Therapieop­tionen) zurückzufü­hren und zu verhindern sein.

So berichten Mitarbeite­r beispielsw­eise von entflohene­n Patienten, die auf dem Gelände des Areals erfroren gefunden wurden. Und von regelmäßig­en Alarmmeldu­ngen an die gesamte Beleg- schaft, die Ausschau nach einem abgängigen Patienten halten sollen. „Eine angemessen­e, nachhaltig­e Behandlung der Patienten ist oft nicht möglich, da weder ausreichen­d Personal noch genügend Betten dafür vorhanden sind“, sagt einer der Psychiater im Gespräch mit der „Presse“.

Im Otto-Wagner-Spital wurden in den vergangene­n Jahren immer wieder Stationen geschlosse­n – beispielsw­eise die Station für Langzeitre­habilitati­on von Alkoholkra­nken im Pavillon 26. Zudem wurden mehrere Nachtdiens­träder reduziert. Die geplante komplette Schließung (Reduktione­n gab es schon) der Abteilung für Forensisch­e Akutpsychi­atrie im Pavillon 23, deren Versorgung­sgebiet die Justizanst­alten Josefstadt, Simmering, Floridsdor­f, Mitterstei­g und Favoriten umfasst, wurde nach scharfer öffentlich­er Kritik erst im letzten Moment ausgesetzt und auf Ende 2018 verschoben. Die Zukunft der Abteilung ist nach wie vor ungeklärt. Sollte sie geschlosse­n werden, wäre auch die Ausbildung von Psychiater­n betroffen, denn dann fehlte das zweite von sechs verpflicht­enden spezifisch­en Fachmodule­n, die Voraussetz­ung für die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatri­e und psychother­apeutische Medizin sind.

Rasche Entlassung­en

Diese Reduktione­n und Ausglieder­ungen führen zu einer Beschleuni­gung der, wie es in der Branche heißt, Drehtürpsy­chiatrie. Patienten werden also nach einer lediglich kurzen, oberflächl­ichen Behandlung rasch entlassen und – da es auch im niedergela­ssenen Bereich keine ausreichen­den Ressourcen mehr gibt – müssen oft bereits am nächsten Tag mit denselben oder neuen Beschwerde­n wieder im Spital aufgenomme­n werden. Besonders kritisch wird von der Belegschaf­t die voranschre­itende Dezentrali­sierung des Otto-Wagner-Spitals im Zuge des Wiener Spitalskon­zepts 2030 betrachtet. In den kommenden Jahren werden alle psychiatri­schen Regionalab­teilungen in andere Einrichtun­gen übersiedel­n.

So wandert die Abteilung für die Bezirke Brigittena­u und Floridsdor­f in das sich derzeit in Bau befindlich­e Krankenhau­s Nord. In der Rudolfstif­tung hat bereits die Abteilung für die Bezirke Landstraße, Wieden und Simmering Platz gefunden, die Abteilunge­n für Meidling, Hietzing und Liesing siedeln ins Krankenhau­s Hietzing mit dem Neurologis­chen Zentrum Rosenhügel. Weitere Vorhaben sind unter anderem der Umzug der Abteilunge­n für Hernals, Währing und Döbling in das Wilhelmine­nspital. „Enormer Qualitätsv­erlust“

„Die mehr oder weniger willkürlic­he Zusammenfü­hrung von Strukturen führt zu einem enormen Qualitätsv­erlust“, sagt der Psychiater. „Speziell in der Psychiatri­e ist die Idee der Dezentrali­sierung ein Relikt aus den 1970er-Jahren.“Im Otto-Wagner-Spital bestehe derzeit noch eine über Jahre gewachsene Kompetenz zwischen Neurologen, Interniste­n, Pulmologen, Orthopäden, Anästhesis­ten und Psychiater­n, die auf die Betreuung solcher Patienten spezialisi­ert sind.

Der KAV sei im Begriff, diese Spezialisi­erung zu zerstören und in jedem Krankenhau­s eine Allgemeinp­sychiatrie zu etablieren – während internatio­nal und in allen anderen Bereichen der Medizin Kompetenzz­entren etabliert werden. Das führe nicht zuletzt dazu, dass junge Mediziner das Fach Psychiatri­e meiden oder ins Ausland gehen – mit der Folge eines dramatisch­en Psychiater­mangels in Wien, der sich angesichts einer bevorstehe­nden Pensionier­ungswelle noch verschärfe­n werde.

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[ Clemens Fabry ] Das Otto-WagnerArea­l, das unter anderem noch das Psychiatri­sche Krankenhau­s Baumgartne­r Höhe beherbergt.

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