Der Kampf um die Seele Israels
Analyse. 70 Jahre nach der Staatsgründung sind die Israelis gespalten. Auf der einen Seite stehen die wachsenden Ultraorthodoxen, auf der anderen Seite die Nationalen.
Jerusalem. Zum Auftakt der Feierlichkeiten zum 70-Jahr-Jubiläum Israels nahm Benjamin Netanjahu symbolisch einen Friedenszweig in die Hand: „Unsere Hand ist in Frieden ausgestreckt für all jene unserer Nachbarn, die den Frieden wollen.“Unter einigen der arabischen Nachbarn machte der Premier eine „wirkliche Saat des Friedens“aus – eine Anspielung auf ein Interview des saudischen Kronprinzen, Mohammed bin Salman, der kürzlich die Existenz Israels anerkannte.
Die Gegner des israelischen Premiers sehen dagegen schon die Ende seiner Ära heraufdämmern. Für Avi Gabai, den Chef der Arbeitspartei, ist die Empfehlung der Polizei für eine Anklage Netanjahus ein klares Indiz. Selbst wenn Israels Koalition vor der regulären Wahl 2019 zu Fall kommt, kann Gabai indessen von Glück reden, wenn er das Wahlergebnis von 2015 erreicht – den abgeschlagenen zweiten Platz. Umfragen pro- phezeien der Arbeitspartei einen präzedenzlosen Sturzflug. Die Partei des Staatsgründers, David BenGurion, ist passe.´ Die Israelis wollen eine konservativ-nationale Regierung – mit oder ohne Netanjahu.
„Demografische Gefahr“
Sicherheit steht ganz oben: Seit zwölf Jahren herrscht Ruhe an der Grenze zum Libanon. Der letzte Krieg im Gazastreifen 2014 bedrohte die Zivilbevölkerung nur bedingt. Auch die Zahl der Terrorangriffe geht zurück. Aus israelischer Sicht besteht geringer Handlungsdruck für einen Frieden mit den Palästinensern. Nur ein paar Hundert Demonstranten solidarisierten sich mit den Protesten im Gazastreifen, bei denen mehr als 30 Palästinenser erschossen wurden.
Israel steht wirtschaftlich gut da: Das IT-Geschäft boomt. Das Land investiert heute nicht mehr in Orangenplantagen, sondern in Technologieparks und Großraumbüros für Cybersicherheit. Doch der Profit verteilt sich ungleich, die hohe Armutsrate von 20 Prozent bleibt seit Jahren konstant. Betroffen sind vor allem die arabische Minderheit und orthodoxe Juden. Die Gruppe der Ultraorthodoxen gilt als „demografische Gefahr“. Mit rund 6,5 Kindern liegt die Geburtenrate fast dreimal über dem Durchschnitt. Weltliche und sehr fromme Israelis streiten über das öffentliche Leben und den Verkehr am Sabbat, den allgemeinen Wehrdienst und die gerechtere Verteilung staatlicher Ressourcen. Jeder vierte Erstklässler besucht eine Schule, in der das Alte Testament der wichtigste Unterrichtsgegenstand ist. So müssen immer weniger säkulare Israelis immer mehr Ultraorthodoxe finanzieren.
Es geht ein Riss durch die Gesellschaft. Die Orthodoxen fordern „Mehr Macht den Rabbinern“, die Nationalen „Mehr Macht den Politikern“. Einig sind sie sich nur in der Forderung: „Weniger Macht für die Richter“. Zur 70-Jahr-Feier der Unabhängigkeit ringt Israel um die Gewaltenteilung und ein Gleichgewicht in der Gesellschaft.