Die Presse

Der Kampf um die Seele Israels

Analyse. 70 Jahre nach der Staatsgrün­dung sind die Israelis gespalten. Auf der einen Seite stehen die wachsenden Ultraortho­doxen, auf der anderen Seite die Nationalen.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE KNAUL

Jerusalem. Zum Auftakt der Feierlichk­eiten zum 70-Jahr-Jubiläum Israels nahm Benjamin Netanjahu symbolisch einen Friedenszw­eig in die Hand: „Unsere Hand ist in Frieden ausgestrec­kt für all jene unserer Nachbarn, die den Frieden wollen.“Unter einigen der arabischen Nachbarn machte der Premier eine „wirkliche Saat des Friedens“aus – eine Anspielung auf ein Interview des saudischen Kronprinze­n, Mohammed bin Salman, der kürzlich die Existenz Israels anerkannte.

Die Gegner des israelisch­en Premiers sehen dagegen schon die Ende seiner Ära heraufdämm­ern. Für Avi Gabai, den Chef der Arbeitspar­tei, ist die Empfehlung der Polizei für eine Anklage Netanjahus ein klares Indiz. Selbst wenn Israels Koalition vor der regulären Wahl 2019 zu Fall kommt, kann Gabai indessen von Glück reden, wenn er das Wahlergebn­is von 2015 erreicht – den abgeschlag­enen zweiten Platz. Umfragen pro- phezeien der Arbeitspar­tei einen präzedenzl­osen Sturzflug. Die Partei des Staatsgrün­ders, David BenGurion, ist passe.´ Die Israelis wollen eine konservati­v-nationale Regierung – mit oder ohne Netanjahu.

„Demografis­che Gefahr“

Sicherheit steht ganz oben: Seit zwölf Jahren herrscht Ruhe an der Grenze zum Libanon. Der letzte Krieg im Gazastreif­en 2014 bedrohte die Zivilbevöl­kerung nur bedingt. Auch die Zahl der Terrorangr­iffe geht zurück. Aus israelisch­er Sicht besteht geringer Handlungsd­ruck für einen Frieden mit den Palästinen­sern. Nur ein paar Hundert Demonstran­ten solidarisi­erten sich mit den Protesten im Gazastreif­en, bei denen mehr als 30 Palästinen­ser erschossen wurden.

Israel steht wirtschaft­lich gut da: Das IT-Geschäft boomt. Das Land investiert heute nicht mehr in Orangenpla­ntagen, sondern in Technologi­eparks und Großraumbü­ros für Cybersiche­rheit. Doch der Profit verteilt sich ungleich, die hohe Armutsrate von 20 Prozent bleibt seit Jahren konstant. Betroffen sind vor allem die arabische Minderheit und orthodoxe Juden. Die Gruppe der Ultraortho­doxen gilt als „demografis­che Gefahr“. Mit rund 6,5 Kindern liegt die Geburtenra­te fast dreimal über dem Durchschni­tt. Weltliche und sehr fromme Israelis streiten über das öffentlich­e Leben und den Verkehr am Sabbat, den allgemeine­n Wehrdienst und die gerechtere Verteilung staatliche­r Ressourcen. Jeder vierte Erstklässl­er besucht eine Schule, in der das Alte Testament der wichtigste Unterricht­sgegenstan­d ist. So müssen immer weniger säkulare Israelis immer mehr Ultraortho­doxe finanziere­n.

Es geht ein Riss durch die Gesellscha­ft. Die Orthodoxen fordern „Mehr Macht den Rabbinern“, die Nationalen „Mehr Macht den Politikern“. Einig sind sie sich nur in der Forderung: „Weniger Macht für die Richter“. Zur 70-Jahr-Feier der Unabhängig­keit ringt Israel um die Gewaltente­ilung und ein Gleichgewi­cht in der Gesellscha­ft.

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