Die tief zerstrittenen Achtzehn von Stockholm
Nobelpreiskomitee. Gibt es heuer keinen Literaturnobelpreis? Die Schwedische Akademie ist in ihrer schwersten Krise, fast täglich kommen neue Enthüllungen, der König ändert die Statuten. Über eine kuriose Institution und ihre Geschichte.
Sex, Geheimnisverrat, Veruntreuung – und das in den Reihen einer uralten königlichen Institution, weltberühmt, seit sie den Literaturnobelpreis vergibt . . . Kein Wunder, dass die Welt so neugierig nach Stockholm schaut. Seit Monaten geht es dort um Missbrauchsvorwürfe gegen den Mann eines Akademiemitglieds. Neueste Wendung: Am Donnerstag berichteten schwedische Medien, dass eines der bekanntesten Mitglieder der Akademie und ein enger Freund Arnaults, Horace Engdahl, die Ermittlungen der Kanzlei zu stoppen versucht habe.
Den Franzosen verdankten die Schweden einst die Idee einer Akademie, jetzt verdanken sie einem Franzosen die schwerste Krise ihrer Geschichte. Seit über zwei Jahrzehnten soll der heute 71-jährige Fotograf Jean-Claude Arnault sich nicht nur als eifriger Kunstförderer an der Seite seiner Ehefrau, Katarina Frostenson, hervorgetan haben. 18 Frauen warfen ihm im Zuge der MeToo-Bewegung zum Teil brutale sexuelle Übergriffe vor, Arnault soll dabei auch seinen Einfluss im Kulturleben und im Akademiebetrieb missbraucht haben.
Die Achtzehn sind nur noch elf
Es geht auch um die Frage, wer wie viel wusste, um die Entscheidung zwischen alten Freundschaften und Integrität. Es geht um die jüngsten Ergebnisse einer Untersuchung, die die Akademie bei einer Anwaltskanzlei in Auftrag gegeben hat: Sie fand unter anderem fragwürdige finanzielle Transaktionen – so soll Arnaults Kulturverein Forum, als dessen Teilhaberin Ehefrau Frostenson firmiert, Zuwendungen von der Akademie erhalten haben, über die Frostenson mitentschied. Die legendären „Aderton“, wie die 18 Mitglieder genannt werden, attackieren einander über die Medien, sie sind tief zerstritten – auch in der Frage, wie man mit den Vorwürfen umgehen soll.
Derzeit sind die 18 de facto nur noch elf. Ein Drittel der Mitglieder hat sich schon zurückgezogen, darunter die den Vorsitz führende Ständige Sekretärin, Sara Danius. Sie war vor zwei Jahren mit dem Ziel angetreten, das Gremium zu erneuern. Momentan ist es nicht einmal mehr beschlussfähig: Denn da die Mitglieder unwiderruflich auf Lebenszeit ernannt sind, können sie nicht offiziell zurücktreten, somit auch nicht nachbesetzt werden. Kein Beschluss hieße aber auch im Oktober: kein Literaturnobelpreis.
Dieser immerhin dürfte nun gerettet sein. Am Dienstag hat Schwedens König, Carl XVI. Gustaf, ein Machtwort gesprochen. Mit Sorgenfalten angesichts der „sehr traurigen Entwicklung“für die „sehr, sehr wichtige Institution“kündigte er an, die uralten, 1786 unter Gustav III. eingeführten Statuten zu ändern: Rücktritt wird möglich.
Nobelpreis? Lieber nicht . . .
Sex and crime im Nobelkomitee; Boulevardschlagzeilen über eine mehr als 200 Jahre alte Institution – an deren Jahresversammlung Mitglieder des Königshauses teilnehmen und deren Traditionen so in Ehren gehalten werden, dass nur ein König die Regeln ändern kann: Das alles wäre ein bizarres, aber doch begrenzt relevantes Provinzspektakel. Wäre da nicht Alfred Nobel gewesen, der 1895 in einer kuriosen Testamentsentscheidung Schwedens Sprachhüter ausersah, jährlich einem Autor ein Vermögen zu schenken. Kaum bekannt ist, dass diese anfangs fast abgelehnt hätten. Die Akademie sei zu klein für diese Aufgabe, argumentierten sie – wie sollte sie dann noch Zeit für ihre traditionellen Pflichten finden? Erhalten ist die Rede des Ständigen Sekretärs, er half mit moralischer Erpressung nach, malte aus, was einem Nein folgen würde: Die Schriftsteller Europas (an andere Kontinente dachte man offenbar noch nicht) wären um diesen Preis gebracht, „ein Sturm wird aufkommen, ein Sturm der Entrüstung“, dem sich auch spätere „Aderton“anschließen würden.
Diese sollten ja ursprünglich nur die schwedische Sprache rein halten, die Dichtung pflegen – ganz nach dem Vorbilder der Academie´ Francaise.¸ Dass es nicht 40 Mitglieder wurden wie dort, sondern 18, war dem Zufall geschuldet. „En av de Aderton“(„einer der Achtzehn“) klang für den König schöner als „en av de Fyrtio“.
Alles sollte hier in würdevoller Distanz zum Zeitlichen geschehen. Als die Akademie etwa 1914 das Recht erhielt, den ersten Stock des Börsenhauses in Stockholm zu nutzen – wo sie seitdem den Literaturnobelpreis verkündet –, erhielt sie es auf immer und ewig. Für die Ewigkeit angelegt scheint auch eines Langzeitprojekt der „Aderton“: ein historisches Wörterbuch des Schwedischen. Ende des 19. Jahrhunderts hat man damit begonnen. Das Ende des schwedischen Alphabets – der Buchstabe „Ö“– ist heute noch nicht erreicht.
Ausschlüsse gab es sehr wohl!
Und doch ging es von Anfang an nicht nur um hochgeistige Sphären. So heißt es, dass Gustav III. am Vorabend der Französischen Revolution die Akademie auch deswe- gen gründete, damit die Literaten nicht wie anderswo in Europa auf dumme Gedanken kämen. Als neue intellektuelle Spielwiese sollte sie die Geistesmenschen von revolutionären Ideen ablenken und stärker an das Königshaus binden.
Politisch ging es dennoch bald wild her. Und was die angeblich bisher in Stein gemeißelte Mitgliedschaft auf Lebenszeit betrifft: Damit nahm man’s gar nicht so genau. Der finnlandschwedische Staatsmann Gustaf Mauritz Armfelt, ein enger Freund des Akademiegründers Gustav III., wurde bald nach dessen Ermordung in Abwesenheit zum Tod verurteilt, floh nach Russland und verlor seinen Sitz in der Akademie. 1805 wurde er wieder aufgenommen, 1811 wieder ausgeschlossen. Ein anderer, 1848 gewählt, hat die Akademie nie betreten, 1859 hob die Akademie seine Mitgliedschaft auf.
Abgang wegen Elfriede Jelinek
Knut Ahnlund hingegen blieb stets „en av de Aderton“, obwohl er es sogar geschafft hat, zwei Mal seinen Abgang zu erklären (das zweite Mal 2005, weil er fand, die Wahl Elfriede Jelineks habe das Ansehen des Literaturnobelpreises irreparabel beschädigt). Kerstin Ekman und Lars Gyllensten ebenso – sie gaben 1989 aus Protest ihren Sitz auf, weil die Akademie dem bedrohten Salman Rushdie nicht den Rücken stärkte.
Der Rushdie-Streit galt bisher als die schwerste Erschütterung in der jüngeren Geschichte der Akademie. Und doch ist er nichts gegen die jetzige Krise. Wie geht es weiter? Nach dem Beschluss des Königs, Rücktritte und damit den Austausch von Akademiemitgliedern zu ermöglichen, scheint Erleichterung in Stockholm eingekehrt. Die Nominierungsfrist für den heurigen Literaturnobelpreis ist seit Ende Februar abgelaufen. „Jetzt werden wir einen Teil unserer Zeit bis Ende Mai damit verbringen, diese Namen zu überprüfen“, sagte Akademiemitglied Göran Malmqvist am Donnerstag.
Auch er hat schon von sich reden gemacht – etwa, als er 2012 über einen mit ihm zerstrittenen chinesischen Autoren an seinen Akademiekollegen Per Wästberg schrieb: „Ich werde ihn zerquetschen, wie man eine Laus mit dem Daumennagel zerquetscht.“Wästbergs Antwort: „Zerquetsch ihn, du hast meinen Segen.“
Immer schwieriger wird es, sich das alles wegzudenken, wenn die hohen Herren (und Damen) von der Akademie feierlich den Literaturnobelpreisträger verkünden.