Warum man Marathon läuft
Psychologie. Wenn am Wochenende 40.000 Menschen durch Wien laufen, kollidiert Individualität mit Herdentrieb. Doch das hat gute Gründe. Und ist psychologisch erklärbar.
Individualität kollidiert mit Herdentrieb. Das hat gute Gründe. Und ist psychologisch erklärbar.
Wien. Man ist nur eine (Start-) Nummer. Man läuft in einer anonymen, viel zu großen Herde, pardon: Masse. Und 42,195 Kilometer sind verdammt viel, noch dazu, wenn man ein ungemütlich hohes Wettkampftempo anschlägt. Wieso bitte – vom monatelangen Training ganz zu schweigen – tut man sich das an? Fünf Gründe, warum Menschen einen Marathon laufen.
1Das Grundbedürfnis. „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft.“Der tiefere Sinn dieses in der Laufwelt berühmten Zitats der tschechischen Lauflegende Emil Zatopek´ (1922– 2000) lässt sich leicht ergründen: Laufen liegt in unseren Genen. „Es ist eine der ursprünglichsten Fortbewegungstechniken des Menschen – ein Grundbedürfnis.“Das sagt der Sportpsychologe Günter Amesberger, Leiter des Fachbereichs Sport- und Bewegungswissenschaft an der Uni Salzburg. Allerdings sei die Marathondistanz „für gesundes Laufen eigentlich zu lang“. Aber: „Der Mensch ist nicht widerspruchsfrei.“
2Der Vergleich. Marathon ist ein anderes Wort für Herausforderung. Wie im Beruf gelte das Leistungsmotiv, erklärt Sportpsychologe Björn Krenn vom Institut für Sportwissenschaft der Uni Wien. „Durch einen Marathon kann man sich in Relation zu anderen setzen.“Als Teilnehmer frage man sich: „Wo bin ich im Vergleich zu den anderen?“Der Drang nach dem Vergleich zeige sich auch durch das Verhalten der Menschen in sozialen Medien. Auch dort setze man sich selbst ständig in Beziehung zu anderen. Und da jeder Marathonteilnehmer eine bestimmte Zeit läuft, sei es einfach, seine eigene Platzierung, seine eigene Leistung jener der anderen gegenüberzustellen.
So gesehen gilt also: Durch messbare Eigenleistung kann sich jedes Individuum innerhalb der großen Teilnehmermasse definieren.
Motiv mitzulaufen sei auch die Steigerung des sozialen Prestiges. Auch innerhalb des persönlichen Umfelds (nicht nur in Laufkreisen) steige das Ansehen, wenn man sagen könne: „Ich laufe einen Marathon. Ich schaffe das.“
Auch Amesberger sieht ein Spannungsverhältnis: Da der Drang nach Individualität, ein Phänomen unserer Zeit – dort die Teilnahme an einem Massenlauf. Stichwort: Herdentrieb. Die Erläuterung des Psychologen: Die „individuelle Freude am Laufen paart sich mit der gesellschaftlichen Inszenierung.“Es handle sich um eine „Koppelung“zweier Gegebenheiten bzw. um einen „charakteristischen Bogen“, der zwischen diesen beiden Gegebenheiten gespannt würde.
3Die Gesundheit. Amesberger macht darauf aufmerksam, dass in empirischen Studien bzw. bei Befragungen das Laufmotiv „Gesundheit“immer ganz weit oben stehe. Tatsächlich bedeute Laufen eine Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems und tue auch der Psyche gut. Es entfalte eine antidepressive Wirkung – etwa durch die Ausschüttung des Hormons Serotonin. Dazu komme der Effekt, „draußen“zu sein. „Das ergibt viele Eindrücke, viele Reize, man aktiviert das Hirn positiv.“
4Die Belohnung. Die Tatsache, dass man als Marathonläufer (und auch als Teilnehmer anderer Bewerbe) nach dem Zieleinlauf eine Medaille um den Hals gehängt bekommt, sei nicht zu unterschätzen, so Amesberger. „Das ist den Menschen sehr wichtig.“Das Streben nach Belohnung sei im Menschen „stark verankert“.
5Die Inszenierung. Marathonläufe samt den vielen Nebenbewerben haben es in den vergangenen Jahren zu „gesellschaftlicher Beachtung“gebracht, sagt wiederum Sportpsychologe Krenn. Auch durch die „mediale Inszenierung“großer, internationaler Stadtläufe sei so etwas wie eine Dauerpräsenz dieser Disziplin entstanden. Ein „sozialer Lernprozess, eine Bewegung“seien in Gang gekommen. Abgesehen davon gebe es auch noch einen ganz profanen Grund, warum Laufen so beliebt sei: „Jeder kann laufen. Man braucht nur Laufschuhe.“
Amesberger erinnert zudem daran, dass man bei einem Marathon gemeinsam mit den Topathleten startet. Dies ist tatsächlich sehr speziell – Marathon eben.