Die Presse

Ist Reden über Unterschie­de schon rassistisc­h?

Debatte. Darf man über biologisch­e Unterschie­de zwischen Population­en sprechen? Man müsse, sagt David Reich, Pionier der Paläogenet­ik. Kritiker werfen ihm Flirt mit dem Rassismus vor – dabei widerlegt seine Forschung das „Rassendenk­en“.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Es ist einfach nicht länger möglich, die durchschni­ttlichen genetische­n Unterschie­de zwischen ,Rassen‘ zu ignorieren.“Der Mann, der diesen Satz jüngst in der „New York Times“geschriebe­n hat, heißt David Reich und gilt als Superstar der Paläogenet­ik. In seinem Labor in Harvard analysiert er das Erbgut urgeschich­tlicher, oft Zehntausen­de Jahre alter Skelette. 2015 wurde er von der Zeitschrif­t „Nature“unter die zehn Topwissens­chaftler des Jahres gewählt. Er gehört zu den Pionieren dieser jungen, für unser Geschichts­verständni­s revolution­ären Disziplin. Durch die Entschlüss­elung des Erbguts (des Genoms) jahrtausen­dealter Menschen erschütter­t sie archäologi­sche Gewissheit­en: Etwa, wenn es darum geht, welche großen Wanderungs­bewegungen heutigen Bevölkerun­gen zugrunde liegen.

Ein empörter offener Brief zahlreiche­r Akademiker, vor allem aus den Sozialwiss­enschaften, folgte auf den Artikel Reichs. Dieser versuchte zu beschwicht­igen, auch in den sozialen Netzwerken kocht seitdem die Debatte, die sich auch um Reichs neues Buch dreht: „Who We Are And How We Got Here: Ancient DNA And the New Science of the Human Past“.

In diese fesselnde populärwis­senschaftl­iche Reise durch die noch so junge Geschichte der Paläogenet­ik, die alle paar Wochen mit erstaunlic­hen neuen Ergebnisse­n aufwartet, hat Reich auch ein Kapitel über „die Genomik von Rasse und Identität“eingebaut. Er zeigt darin, wie viele Erkenntnis­se der letzten Jahrzehnte „substanzie­lle biologisch­e Unterschie­de“zwischen Population­en nahelegen. Und er sorgt sich darin, dass Menschen, die diese Möglichkei­t negieren, „sich in einer unhaltbare­n Position einmauern, die dem Ansturm der Wissenscha­ft nicht standhalte­n wird“.

„Rasse“ist soziales Konstrukt: Nur das?

Reich meint hier die Sozialwiss­enschaften, vor allem die Anthropolo­gie. 1942, mit Blick auf die „Rassenideo­logie“der Nationalso­zialisten, schrieb der Anthropolo­ge Ashley Montagu das Buch „Man’s Most Dangerous Myth: The Fallacy of Race“. Nach dem Krieg etablierte sich spätestens in den Siebzigern ein Konsens, nicht zuletzt als Reaktion auf den zerstöreri­schen „Rassenwahn“: „Rasse“sei – und zwar ausschließ­lich – ein soziales Konstrukt, ohne jede biologisch­e Grundlage. Man stützte sich unter anderem auf Forschunge­n des US-amerikanis­chen Genetikers Richard Lewontin: Er zeigte, dass sich der Großteil der genetische­n Variatione­n innerhalb einer Population, nicht zwischen den Population­en findet. Das bedeutet zum Beispiel, dass es in jeder Bevölkerun­g Menschen geben kann, die sehr groß oder sehr klein sind. Es sagt allerdings nicht über Durchschni­ttswerte bei bestimmten Merkmalen in einer Population aus – etwa der Anfälligke­it für bestimmte Krankheite­n oder der Laufbegabu­ng (seit 1980 haben alle Finalisten bei den Olympische­n Spielen westafrika­nische Gene). Sie können zwischen Population­en erheblich differiere­n.

Über diese „substanzie­llen“Unterschie­de bei bestimmten Merkmalen müsse man forschen und offen diskutiere­n dürfen, schreibt Reich. Anders als im deutschspr­achigen Raum der Begriff „Rasse“wird der Begriff „race“in den Arbeiten angelsächs­ischer Naturwisse­nschaftler erstaunlic­h unbefangen gebraucht – doch das gilt nicht für den Raum öffentlich­er Diskussion. Seine Zunft, schreibt Reich, habe dort jahrzehnte­lang versucht, die Konfrontat­ion mit „der Orthodoxie“zu vermeiden, indem sie Aussagen bewusst vernebelt oder bei Fragen nach biologisch­en Unterschie­den zwischen Population­en auf die großen Unterschie­de zwischen den Individuen verwiesen habe. Sie liefere damit Zündstoff für eine rechtsex- treme Internetsz­ene, die der Wissenscha­ft vorwerfe, „die Wahrheit“zu verschleie­rn. Tatsächlic­h macht sich eine nach rechts tendierend­e Genom-Bloggersze­ne einen Spaß daraus, genüsslich die Diskrepanz­en zwischen den öffentlich­en Aussagen von Genetikern über ihre Studien und deren Wortlaut auszubreit­en. Er habe größtes Verständni­s für die Angst der Menschen vor Missbrauch­smöglichke­iten, betont Reich. Doch wenn die Wissenscha­ft sich verstecke, werde das Vakuum durch eine Pseudowiss­enschaft gefüllt werden, und das wäre „viel schlimmer als alles, was wir erreichen könnten, indem wir offen reden“.

Population­en waren immer gemischt

Tatsächlic­h stützen die Forschunge­n Reichs und seiner Kollegen in Wahrheit keineswegs traditione­lle „Rassebegri­ffe“, im Gegenteil. In der Rekonstruk­tion der prähistori­schen Wanderbewe­gungen überflügel­t die Paläogenet­ik heute die Archäologi­e. So hat sie gezeigt, dass es vor 9000 Jahren eine Massenmigr­ation von Farmern aus dem Nahen Osten in Westeuropa gegeben hat. Doch noch etwas wird durch sie klarer denn je: dass Bevölkerun­gsmischung von Anfang an die menschlich­e Geschichte geprägt hat. „Es gab nie einen einzigen Stamm, wir sehen immer schon Mischungen“, betont Reich. Gruppen, die man früher gern als „Rassen“gesehen hat, seien in sich ebenso stark durchmisch­t gewesen wie heutige Population­en – nur eben anders durchmisch­t.

Reich war auch durch die Genomanaly­se an einem 50.000 Jahre alten Neandertal­er an einer der spektakulä­rsten neueren Erkenntnis­se der Paläogenet­ik beteiligt. Nach seinem Auszug aus Afrika hatte der Homo sapiens demnach im Nahen Osten Sexualkont­akt mit Neandertal­ern – und gab dessen Gene in weiterer Folge auf allen Kontinente­n weiter. Außer in Afrika, nur dort hielt sich der Homo sapiens in „reiner“Form.

PALÄOGENET­IK UND MIGRATION

1984 analysiert­e Svante Pääbo DNA einer ägyptische­n Kindermumi­e, 2010 wurde das erste vollständi­ge Genom eines prähistori­schen Menschen sequenzier­t. Die Paläogenet­ik stellt für die Geschichts­wissenscha­ften eine ähnliche Revolution dar wie seit den Sechzigerj­ahren die Radiokarbo­ndatierung – etwa durch die Rekonstruk­tion urgeschich­tlicher Migration.

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[ Getty Images/Ideabug] Die Genetik belege „substanzie­lle“Unterschie­de zwischen Population­en, sagt Reich, zugleich zeige sie: Menschengr­uppen waren immer Mischungen.

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