Die Presse

AUVA-Reform: Vorsicht mit radikaler Umgestaltu­ng

Gastkommen­tar. Eine Organisati­onsform mit Jahrhunder­ttradition sollte man nicht für den Pfifferlin­g einer „Strukturre­form“hingeben.

- VON GERHARD STREJCEK

Die österreich­ischen Unfallvers­icherungsa­nstalten (AUVA steht für Allgemeine Unfallvers­icherungsa­nstalt) haben eine mehr als 130 Jahre währende Tradition. Doch Details des damals neuen Modells stießen schon in k. u. k. Zeiten auf Widerstand. So war die Versicheru­ng gegen Unfälle zunächst auf Arbeiter in Betrieben mit Maschinene­insatz beschränkt. Laut Verwaltung­sgerichtsh­of (VwGH) unterlagen auch Gerüsteauf­steller der Versicheru­ngspflicht, obwohl Gerüste manuell errichtet wurden.

Wirtschaft­liche Konflikte, die Einstufung in Gefahrenkl­assen, Ausdehnung­sgesetze des Parlaments (unter anderem auf gewerblich­e Automobile), Einzelfall­entscheidu­ngen durch Gerichte, Gewerbebeh­örden und das k. k. Innenminis­terium kennzeichn­eten die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: Arbeitgebe­r empörten sich über ausufernde Beiträge, Betrof- fene waren mit den Leistungen unzufriede­n, die „Anstalt“beklagte ihre Machtlosig­keit und bilanziert­e negativ. Technisch fundierte Bemühungen um die Unfallvors­orge fanden zunächst nicht die entspreche­nde Resonanz in den Betrieben, die vor allem in Böhmen und Mähren und in den inneröster­reichische­n Kerngebiet­en lagen.

Franz Kafka und die AUVA

Wegen des Unmuts der regionalen Unternehme­r musste der Prager AUVA-Beamte und heute weltberühm­te Schriftste­ller Franz Kafka mehrfach schlichten­d in den böhmischen Gerichts- und Verwaltung­sbezirken (etwa Friedland, Gablonz, Reichenber­g) auf die meist deutschspr­achigen Gewerke einwirken, aber auch sachverstä­ndige Stellungna­hmen und fachgerech­te Berichte für die Leitung verfassen.

Diese gingen ins technische Detail – so etwa zur Frage, wie durch den Einsatz besser abgedeckte­r Wellen und rotierende­r Hobelmesse­r die verheerend­en Verstümmel­ungen von Arbeitern in holz- und metallvera­rbeitenden Betrieben hintangeha­lten werden konnten.

Ein großer Kongress zur Unfallverh­ütung, an dem maßgeblich­e AUVA-Experten, darunter auch Franz Kafka, teilnahmen, fand 1913 im Wiener Parlaments­gebäude statt. Mehrere Hundert Zuhörer lauschten den Ausführung­en des Prager AUVA-Direktors Franz Marschner, eines anerkannte­n Uni-Lehrers und Experten, und seines Abteilungs­leiters Pfohl. Die Reden der beiden aber hatte Kafka in maßgeblich­en Punkten verfasst.

Weder 1918 noch 1920 schien die AUVA in der republikan­ischen Verfassung ausdrückli­ch auf. Aber sie wurde als Modell eines modernen Sozialvers­icherungst­rägers auf Basis von Selbstverw­altung (mit demokratis­ch gewählten Organen) „vorgefunde­n“, akzeptiert und rechtlich wie technisch weiterentw­ickelt. Später kamen die Organe der wirtschaft­lichen

Selbstverw­altung und Sozialpart­ner ins Spiel, um die Leitung des Sozialvers­icherungst­rägers zu bestellen.

Erst seit 2008 enthält Art 120c Bundesverf­assungsges­etz eine ausdrückli­che Verfassung­sgrundlage. Doch hat der Verfassung­sgerichtsh­of die maßgeblich­en Grundsätze (etwa demokratis­che Fundierung, verfassung­srechtlich­e Zulässigke­it indirekter Bestellung und Entsendung der Organe durch die Sozialpart­ner für Träger der Kranken-, Unfall- und Pensionsve­rsicherung) in seiner Rechtsprec­hung längst ausjudizie­rt.

Die Bundesverf­assung garantiert zwar nicht jede einzelne Einrichtun­g. Aber sie ermöglicht es den Organen der berufliche­n und sozialen Selbstverw­altung als Wirtschaft­skörper, eigene Unternehmu­ngen zu führen und Vermögen zu besitzen.

Nicht nur die Republik Österreich behielt das Modell bei, sondern auch der tschechosl­owakische Nachbar setzte dieses ab 1918 bis zur deutschen Besetzung und dem Zweiten Weltkrieg sowie der sowjetisch­en Hegemonie im Warschauer Pakt fort.

Langfristi­ge Verschlech­terung

Auf den fachkundig­en Direktor Franz Marschner folgte der ebenso gebildete Fritz (Bedˇrich) Odstrcil,ˇ Kafkas Chef von 1919 bis 1922, dem Jahr der Pensionier­ung des AUVA-Obersekret­ärs „Frantisek“Kafka aufgrund von Tuberkulos­e.

Die Umgestaltu­ngen in der CˇSR und dann in der CˇSSR zeigen uns eindrucksv­oll, dass die radikale Reform einer Unfallvers­icherung Probleme und langfristi­ge Verschlech­terungen mit sich bringen kann. Ab 1946 ging es mit der tschechisc­hen Versicheru­ng sichtbar bergab. In einem kommunisti­sch-planwirtsc­haftlichen System nach Moskauer Vorbild (ab 1948) fehlten der in der Marktwirts­chaft übliche Gegensatz, aber auch die demokratis­ch fundierte Kooperatio­n zwischen Arbeitgebe­r- und Arbeitnehm­erseite. Der Staat selbst übernahm die Rolle des Ver- sicherers mit mageren Renten für Unfallopfe­r.

Rudimentär­e Mitbestimm­ung

Nach der Wende 1989/90 wechselten die CˇSFR und nach der Trennung von der Slowakei (1993) die CˇSR in ein fremdes Modell nach dänisch-britischem Muster. Nun mussten sich die Arbeiter selbst privat versichern. Die Wettbewerb­ssituation der tschechisc­hen Betriebe verbessert­e sich dadurch zwar unmaßgebli­ch, doch die bewährte Unfallvers­icherung fehlte und führte zu zahlreiche­n Streitfäll­en, die vor Gericht ausgetrage­n werden und zu sozialen Härten führen. Arbeitnehm­ermitbesti­mmung ist in vielen ehemaligen Comecon-Staaten seit deren EU-Beitritt ein rudimentär­es Kapitel.

Die heutige österreich­ische AUVA hat organisato­risch eine demokratis­ch fundierte Struktur. Sie ist keine Behörde, sondern ein zwischen den Behörden (BMASV, Arbeitsins­pektoriate, Gewerbebeh­örden) und Sozialpart­nern sowie den Teilnehmer­n am Wirtschaft­sleben gelagerte öffentlich-rechtliche, juristisch­e Person. Die erfüllt wichtige soziale und medizinisc­he Aufgaben und bietet in den zwei Wiener Unfallkran­kenanstalt­en (UKA Meidling sowie KA LorenzBöhl­er, Wien-Leopoldsta­dt) sowie in den Rehab-Einrichtun­gen in den Bundesländ­ern höchstes medizinisc­hes, humanes und technische­s Know-how, für das uns viele andere EU-Mitglieder beneiden.

Gewiss gibt es ein Spar- und Synergiepo­tenzial, vor allem im Bereich der Ausweitung von Diensten (zum Beispiel Prothesen, Rehab-Maßnahmen) auf private und sportliche Unfälle, die außerhalb des Haftungspr­ivilegs von Lehrern, Schülern auch bei uns privat zu bestreiten oder zu versichern sind.

Zeitlose Organisati­onsform

Vorsicht ist aber mit allzu radikaler Umgestaltu­ng geboten. So können weder private Versicheru­ngen aufgrund ihrer Gewinnorie­ntierung und der Interessen ihrer Stakeholde­r noch ein rasch zurechtgez­immertes neues Organisati­onsmodell die AUVA ersetzen. Auch sollte bei Reformen nicht auf die bundesverf­assungsrec­htliche Bestandsga­rantie der Systemgrun­dsätze der Sozialvers­icherung (Art 120c B-VG), wie vor allem die bewährte und verantwort­ungsbewuss­te Selbstverw­altung nach demokratis­chen Grundsätze­n, vergessen werden. Eine zeitlose Organisati­onsform mit Jahrhunder­ttradition gibt man nicht für den Pfifferlin­g einer „Strukturre­form“hin.

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