Die Presse

Europa muss endlich gegen Erdo˘gan Stellung beziehen

Das jüngste Urteil eines Istanbuler Gerichts ist ein fundamenta­ler Angriff auf die Pressefrei­heit. Die regierungs­kritischen Türken brauchen die Hilfe Europas.

- E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

A kın Atalay, Herausgebe­r. Orhan Erinc,¸ Stiftungsv­orstand. Bülent Utku, Rechtsanwa­lt. Murat Sabuncu, Chefredakt­eur. Kadri Gürsel, Redakteur. Güray Öz, Leser-Ombudsmann. Önder C¸elik, Mitglied der Stiftung. Musa Kart, Karikaturi­st. Hakan Kara, Redakteur. Mustafa Kemal Güngör, Rechtsanwa­lt. Aydın Engin, Redakteur. Hikmet C¸etinkaya, Redakteur. Ahmet Sık,¸ Kolumnist. Emre Iper, Buchhalter. Sie sind für die linksliber­ale türkische Tageszeitu­ng „Cumhuriyet“und für die Stiftung, die sie trägt, tätig, und es ist wichtig, ihre Namen zu nennen. Mittwochab­end verurteilt­e ein Istanbuler Gericht sie alle zu langen Haftstrafe­n – insgesamt sind es 72 Jahre und ein Monat.

Es ist nicht unironisch, dass just am selben Tag die Organisati­on Reporter ohne Grenzen ihre jährliche Rangliste der internatio­nalen Pressefrei­heit veröffentl­icht hat. Dort rutschte die Türkei erneut um zwei Plätze ab, belegt mittlerwei­le Rang 157 von insgesamt 180 und befindet sich somit in guter Gesellscha­ft mit Ländern wie Kasachstan, Ruanda oder dem Iran.

Das Gericht wirft den Redakteure­n und Mitarbeite­rn Terrorprop­aganda vor, ein bereits universal und flexibel anwendbare­r Vorwurf in der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan.˘ Die Kollegen sollen im Rahmen ihrer Arbeit die PKK, die linksextre­me DHKP-C sowie den islamische­n Prediger Fethullah Gülen unterstütz­t haben. Aber jedem halbwegs kritischen Beobachter muss klar sein: Der Feldzug der türkischen Justiz gegen „Cumhuriyet“ist erstens ein politische­r Prozess, wie der Anwalt der Zeitung, Duygun Yasuvat, nach dem Urteilsspr­uch erneut bekräftigt hat. Und zweitens ein persönlich­er Rachefeldz­ug der regierende­n AKP, war es doch „Cumhuriyet“, die mit Enthüllung­en die Parteispit­ze oft in Erklärungs­not brachte. Denn als Beweismate­rial wiesen die Ermittler nichts anderes vor als die Zeitungsar­tikel, Interviews oder Tweets der Angeklagte­n. Hier hat ein türkisches Gericht erneut den unabhängig­en Journalism­us per se angeklagt. Und so ist das Istanbuler Urteil nur eines: ein Skandal.

Die gute Nachricht ist, dass sich die – nicht rechtskräf­tig – verurteilt­en „Cumhuriyet“-Mitarbeite­r äußerst kampfberei­t zeigen. Man werde noch mehr berichten, heißt es aus der Redaktion, noch intensiver, noch digitaler. Dabei lastet auf einer der ältesten Tageszeitu­ngen des Landes ein großer Druck: Die Publikatio­n ist ein freies Medium und hält mit seiner Kritik an der Regierung nicht hinter dem Berg. Das ist keine Selbstvers­tändlichke­it: Die meisten Zeitungen und TV-Stationen in der Türkei gehören mittlerwei­le großen Konsortien an, zuletzt hat Großuntern­ehmer Aydın Dogan˘ seine Mediengrup­pe (u. a. „Hürriyet“) an einen regierungs­nahen Konzern verkauft. Über die Firmenkong­lomerate kann sich die Regierung freundlich­e Berichters­tattung sichern, im Gegenzug dafür gibt es staatliche Aufträge. A llein die Kampfeslus­t der „Cumhuriyet“-Redakteure zeigt, dass sich die Erdogan-˘kritische Hälfte des Landes ständig in einem zermürbend­en Kampf befindet und nicht willens ist, die Autokratis­ierung der Türkei ohne Widerstand hinzunehme­n. Es ist nicht nur „Cumhuriyet“: Zahllose zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen, Studenten, Frauenvere­ine, Hilfsverbä­nde, säkular eingestell­te Gruppen lassen sich nicht einschücht­ern und zeigen regelmäßig mit noch so kleinen Aktionen ein Zeichen des Protests. Es ist schon lang überfällig, dass sich die europäisch­e Gesellscha­ft samt ihrer Union geschlosse­n zu diesen Menschen bekennt und ihnen Anerkennun­g zollt, anstatt es sich leicht zu machen und sich nur über Erdogan˘ zu ereifern. Denn ist die Türkei nicht noch immer offiziell ein Beitrittsk­andidat?

Europa kann den demokratie­liebenden Türken ihren Kampf nicht abnehmen, aber Europa kann sie tatkräftig unterstütz­en. Mit anderen Worten: Europa kann, ja muss sich für eine Seite entscheide­n, spätestens nach dem jüngsten Urteil, das ein fundamenta­ler Angriff auf die Pressefrei­heit ist. Ist die Antwort ein Abbruch der Beitrittsg­espräche? Möglich, aber die kritische Zivilgesel­lschaft sollte nicht im Stich gelassen werden, denn der Blick in Richtung EU ist ihre große Chance, es ist der Grund, warum sie nicht aufgeben.

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VON DUYGU ÖZKAN

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