„Die wahren KärntenHasser“
Über „die Ehrabschneider von Klagenfurt“: Josef Winklers Rede im Landhaus.
Warum ich noch in Kärnten lebe? Mit Achternbusch zu reden: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe, bis man ihr das ansieht!“
Von gewissen Herren hört man, dass ich „ein Kärnten-Hasser“sei. Reizen Sie mich nicht! Lassen Sie sich gesagt sein: Die wahren
Kärnten-Hasser sind die korrupten Figuren, die das Land in den Ruin getrieben haben. Meine Rede im Landhaus: über die Ehrabschneider von Klagenfurt.
Bei unserem allerersten Ausflug in die Kärntner Landeshauptstadt stiegen wir Kinder der Dorfvolksschule Kamering am Bahnhof in Klagenfurt am Walther-von-derVogelweide-Platz aus dem Omnibus und gingen mit der Lehrerin Waltraud Stoxreiter und mit dem Lehrer Emanuel Wenger in die Stadt hinein. Alle Menschen auf der Bahnhofstraße grüßten wir, zu jedem sagten wir: „Grüß Gott! Grüß Gott!“Manche grüßten freundlich und beglückt zurück, andere gingen hochnäsig vorbei, manche fühlten sich sogar gefrotzelt. Dann gab uns der Lehrer zu verstehen, dass wir die Leute in der Stadt nicht grüßen müssen. Ich war entsetzt und fragte mich mit schlechtem Gewissen, da ich keinen Vorbeigehenden mehr grüßte, wie so etwas möglich ist auf dieser Welt, dass Menschen einander nicht grüßen!
Am nächsten Abend besuchten wir im Stadttheater Klagenfurt „Die Zauberflöte“. Das erste Mal in meinem Leben saß ich auf einem gepolsterten Klappsessel. Als ich während der Vorstellung vom Sessel aufstand, meinen Anzug richtete und mich, ohne mich umzusehen, wieder hinsetzen wollte, landete ich unter dem Gelächter meines Mitschülers Leopold Dobrautz auf dem Boden. Ich wollte mich vor Scham unter den Sesseln verkriechen, aber dann kam lautstark die Königin der Nacht mit ihrer Arie „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“. Neugierig erhob ich mich und setzte mich auf meinen roten gepolsterten Klappsessel. – Das waren meine ersten Begegnungen mit der Stadt Klagenfurt.
„Es braucht Jahre, bis Gras über eine Sache gewachsen ist, und da kommt dann ein blöder Esel und frisst das Gras wieder ab!“, sagte die Jazzsängerin Billie Holiday. Es ist immer das alte Lied und dieselbe Leier, aber mit einer Leier kann man bekanntlich auch einen schönen Klang erzeugen, wenn man es kann und vor allem will. Also beginne ich mit einer Paraphrase aus dem „Woyzeck“von Georg Büchner: „Wenn wir den Himmel sehen wollen, müssen wir donnern helfen!“Seit meiner Eröffnungsrede zum IngeborgBachmann-Wettbewerb im Jahr 2009 ist fast ein Jahrzehnt vergangen. Ich habe damals eine Stadtbibliothek gefordert. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Klagenfurt keine eigene Stadtbibliothek, das ist in Mitteleuropa einzigartig. Die kleine sogenannte Studienbibliothek in der Kaufmanngasse am heutigen Marktgelände, die Anfang der 80er-Jahre in die damals neu gegründete Hochschule für Bildungswissenschaften in der Keltengasse eingegliedert wurde, war eine Einrichtung der Republik Österreich, nicht der Stadt Klagenfurt. Graz hingegen, nur dreimal so groß wie Klagenfurt, hat sieben Stadtbibliotheken und eine Mediathek. Wien hat 40 Stadtteilbibliotheken, und ganz nebenbei gibt es dort die Arbeiterkammerbibliothek mit 500.000 Medien in der Prinz-Eugen-Straße. Graz hat eine Arbeiterkammerbibliothek mit 200.000 Medien.
Österreich ist eines der wenigen Länder in Mitteleuropa, die kein Bibliotheksgesetz haben. Mit einem bundesweiten Bibliotheksgesetz wäre die Stadt Klagenfurt gezwungen, eine Bibliothek zu errichten, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie es hier eine Bezirkshauptmannschaft und eine Polizei gibt. Stattdessen hat Klagenfurt mit einer Einwohnerzahl von 100.000 Menschen ein Fußballstadion mit 33.000 Sitzplätzen. Das wäre genauso, wie wenn man in der Zwei-Millionen-Stadt Wien ein Stadion mit 700.000 Sitzplätzen oder zehn Stadien mit jeweils 70.000 Sitzplätzen gebaut hätte.
Um dieses leere Klagenfurter Stadion halbwegs profitabel mit 50 bis 100 Veranstaltungen pro Jahr füllen zu können, müsste man den halben Annabichler Friedhof ausgraben, dann könnten in den Schlachtenbummlerrängen die Skelette auf ihre eigenen Totenköpfe trommeln und unsere Klagenfurter Fußballmannschaft anfeuern, die es auch schon lange nicht mehr gibt in der ersten Bundesliga. Das Stadion war im Jahr 2017 nur dreimal gefüllt. Schon Udo Jürgens hat es als „Klotz am Bein der Stadt Klagenfurt“bezeichnet. Es wurde für die Fußballeuropameisterschaft des Jahres 2008, das heißt für präzise 4 ½ Stunden internationalen Fußball, gebaut und hat bis heute weit über 100 Millionen Euro an Bau- und Instandhaltungskosten verschlungen.
Ganz zu schweigen vom Hypo-Desaster,
dem Kärntner Banken-Desaster, das wir Kapitalverbrechern und korrupten Politikern zu verdanken haben. Erst kürzlich ist mir die Fußfessel mit dem Spitznamen „Ich hab noch einen Tilo in Berlin“auf dem Neuen Platz über den Weg gelaufen. Die vornehme, am Fußknöchel herumhängende, schräge, elektronisch mit dem Gefängniswärter verbundene Dame begleitete den schwerfällig gehenden, 200 Millionen Euro schweren Herrn zur bescheidenen Frittatensuppe auf den Benediktinermarkt. Studenten der Technischen Universität Wien haben ausgerechnet, dass man mit den fast 20 verpulverten Milliarden des Hypo-Desasters eine Stadt für 100.000 Einwohner bauen könnte, und seien es die jetzt noch verbleibenden acht Milliarden, so haben die Kapitalverbrecher und politischen Ganoven, die einst heuchlerisch und wehleidig „Passt mir auf mein Kärnten auf!“gerufen haben, das Land immerhin um eine Stadt in der Größenordnung von Villach gebracht.
Mit diesem Satz, den der NS-Gauleiter Friedrich Rainer, der sich in den letzten Kriegstagen im Klagenfurter Kreuzberglbunker verschanzt hatte, in seiner letzten Radioansprache an das Volk gebrauchte, hat sich schon der verstorbene Landeshauptmann verraten, mit denselben Worten: „Passt mir auf mein Kärnten auf!“Das Land Kärnten gehörte offenbar nicht den 550.000 Einwohnern, weil es ja sein Kärnten war und möglicherweise für viele noch immer sein Kärnten ist. Auch Jörg Haiders Nachfolger zogen im Jahr 2009 mit einem Fingerzeig in den Himmel, „Wir passen – garantiert – auf dein Kärnten auf!“, in ihren siegreichen Wahlkampf. „Es gibt Menschen, die nur das anbeten, was sie vernichten können“, schreibt Friedrich Hebbel in seinen Tagebüchern. Einen Wert von zehn Milliarden Euro, jene Summe, die sich in Kärnten beim
Hypo-Desaster in Luft aufgelöst hat, haben übrigens die gesamten österreichischen Goldbestände, die in Wien, London und Zürich eingelagert sind. Um die Politik Willy Brandts zu unterstützen, drückte bei einem Parteitag im Oktober 1972, also ein Jahr vor dem Tod von Ingeborg Bachmann, der Schriftsteller Heinrich Böll seine Abscheu vor den Mächtigen, die keine Scham haben, mit folgenden Worten aus: „Es gibt nicht nur eine Gewalt auf der Straße, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an der Börse hoch gehandelt werden.“
Dann und wann hört man auch und vor allem von bestimmten Herren aus der FPÖ, dass ich „ein Kärnten-Hasser“sei. Die korrupten Politiker und Kapitalverbrecher, die ich bei meiner Eröffnungsrede beim Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb im Jahr 2009 und später immer wieder aufs literarische Korn genommen habe, haben inzwischen alle entweder hohe Geldstrafen oder eine Fußfessel bekommen, oder sie sind im Gefängnis gelandet, alle! Kein Einziger ist verschont geblieben! Und der eine oder andere wird demnächst wieder vor Gericht erscheinen müssen. Friedrich Hebbel schreibt in seinem Tagebuch von Schlangen, die erst beißen und dann dem Gebissenen den schwarzen Giftfleck zum Vorwurf machen. Lassen Sie sich das gesagt sein, meine Damen und Herren von der FPÖ, die wahren Kärnten-Hasser sind selbstverständlich diejenigen, die das Land in den Ruin getrieben haben. Und wenn die Republik Österreich den durch das Hypo-Desaster entstandenen Kärntner Schuldenberg in der Höhe von ungefähr zehn Milliarden Euro nicht aufgefangen hätte – gäbe es heute noch eine offene Schule oder ein offenes Krankenhaus in diesem Land? „Wenn vor uns die Sintflut ist, dann drehen wir uns einfach um, dann ist hinter uns die Sintflut!“Das scheint die Devise bestimmter Herren von der FPÖ zu sein.
Und wenn Sie mich noch mehr reizen wollen mit Ihrer Unterstellung, dass ich, der seit einem halben Jahrhundert in diesem Land lebt, ein KärntenHasser sei, dann sage ich, dass ich eigentlich dafür bin, die Urne des verstorbenen Landeshauptmannes in eine bewachte Gefängniszelle zu verlegen, denn es könnte ja sein, dass er wie ein Phönix aus seiner Asche steigt und wieder sein Unwesen treibt und als blaues Wunder verkauft, denn schon zu Lebzeiten hat er öfter gesagt: „Ich bin weg! Ich bin wieder da! Ich bin wieder weg! Und gleich wieder da!“Einbalsamieren! Ausbalsamieren! Einbalsamieren! Ausbalsamieren! Dann bin ich wieder da! Denn ich bin die liebe Mumie, und aus dem Bärental kumm i e, um eine Gedichtzeile von H. C. Artmann zu paraphrasieren. Immer wieder werde ich gefragt, warum ich denn überhaupt noch in Kärnten lebe. Ich antworte mit einem Satz des deutschen Filmemachers und Schriftstellers Herbert Achternbusch, der über seine bayerische Heimat gesagt hat: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe, bis man ihr das ansieht!“
Nun kehre ich zur Bibliothek zurück, die sich in Klagenfurt am Wörthersee seit 70 Jahren auf Tauchstation befindet. Kärnten gibt für Bibliotheken jährlich einen Euro pro Einwohner aus. In Wien oder Vorarlberg sind es zehn Euro. In Dänemark oder Finnland mit den guten Pisa-Ergebnissen sind es bis zu 60 Euro. Wenn das Angebot da ist, ist auch der Zulauf da. Inzwischen hat Spittal an der Drau – dank Peter Haselsteiner – die schönste und modernste Stadtbibliothek von Kärnten, und die Ausleihzahlen für Bücher sollen dort enorm sein. Im englischen Birmingham wurden 200 Millionen Euro für eine neue Bibliothek ausgegeben. Sie ist von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends so voll wie ein Einkaufszentrum.
Ich war entsetzt, als ich einmal in einer Klagenfurter Buchhandlung mit einer jungen Frau sprach, die mit ihren beiden Kindern gerade dabei war, ein Buch auszusuchen im Regal mit der Kinderliteratur, und die zu mir sagte, dass sie die Bücher für ihre Kinder halt kaufen müsse: „Und am Ende des Monats“, sagte sie, „muss ich mich entscheiden, entweder ich fülle großzügig den Kühlschrank, oder ich kaufe ein paar Bücher für meine Kinder.“So gesehen, dachte ich beim Weitergehen, mit dem Wort „BücherEHRabschneider“auf den Lippen, hätte ich das größte Verständnis dafür, wenn diese Mutter zweier Kinder ihre Bücherrechnungen an den Magistrat der Stadt Klagenfurt schicken und bei Nichtbezahlung bis zum Obersten Gerichtshof gehen würde, denn eine Bibliothek ist ein Menschenrecht, nicht nur im restlichen Mitteleuropa, sondern ein Menschenrecht auch in Klagenfurt am Wörthersee!
Wie es in einer Informationsschrift des Deutschen Bibliotheksverbandes heißt, sind „Investitionen in Bibliotheken Investitionen in die Köpfe der Menschen. Und dazu noch Investitionen, die sich rechnen. Durch viele internationale Studien ist belegt, dass jeder investierte Euro fünffach zurückkommt.“Öffentliche Bibliotheken, so heißt es weiter, sind längst keine tristen Ausleihstationen mehr, sondern Lernorte – mit perfekter Multimedia-Ausstattung, Gruppenräumen und ruhigen Arbeitsplätzen.
Ich habe mich, während ich aus der Buchhandlung ging, die Worte „Die BücherEHRabschneider von Klagenfurt“auf den Lippen, an die Zeit in meinem bäuerlichen Heimatdorf Kamering erinnert, als ich einmal meine Mutter, die in ihrem Leben kein einziges Buch gelesen hat, um Geld für den Kauf eines Buches bat, worauf sie geantwortet hat: „Für Bücher haben wir kein Geld!“Nach diesen Worten ist für mich als Kind eine Welt zusammengebrochen, bevor ich sie überhaupt kennenlernen durfte, nämlich die Welt der Literatur, die Welt meiner Zukunft. Zu einer Zeit, als die Karl-May-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker anliefen und wir Kinder von Kinosaal zu Kinosaal eilten, von Ferndorf nach Feistritz an der Drau, öffnete ich irgendwann mit hochrotem Kopf und zitternden Händen die Schublade in der Speisekammer und nahm heimlich Geld aus Mutters schwarzer, mit gelben Sternchen übersäter Brieftasche, um mir „Winnetou I“und „Winnetou III“und den „Schatz im Silbersee“kaufen zu können.
Beim Lesen der Karl-May-Bücher bin ich süchtig nach Büchern geworden und habe schließlich nach einiger Zeit gerechterweise nicht mehr von meiner Mutter, sondern von meinem Vater über mehrere Jahre Geld für Bücher gestohlen – auch das eingesammelte Geld für die wöchentlich im Dorf ausgeteilten „Kirchenblätter“der Pfarrerköchin einfach nicht mehr abgeliefert. Schließlich sind es 30, 40 Karl-May-Bücher geworden, die ich mit gestohlenem Geld erworben habe. Der Zufall wollte es, dass mir als 14-Jährigem im Bücherregal der verehrten Lehrerin Waltraud Stoxreiter „Die Pest“von Albert Camus auffiel und ich das Buch auf unseren Bauernhof mitnehmen durfte. Mit dem Roman „Die Pest“hat mein Lesemarathon begonnen.
Damals heftete ich gemeinsam mit meinem Schulfreund Hermann Deweis ein Plakat mit einem Satz des Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn neben einem blühenden Marillenbaum auf unsere desolate Heustadelwand: „Eine Literatur, die nicht den Schmerz und die Unrast der Gesellschaft wiedergeben kann, die nicht rechtzeitig vor den moralischen und sozialen Gefahren warnen kann, verdient den Namen Literatur nicht.“Niemand wagte es, das Plakat von der Heustadelwand zu reißen, jahrelang nicht. In eine saftige Marille beißend, blieben die Dorfleute vor der Heustadelwand stehen und lasen langsam und bedächtig den groß gedruckten Satz von Alexander Solschenizyn.
Bereits als Jugendlicher, als ich noch in die Handelsschule ging, las ich Weltliteratur. Die Unterhaltungsliteratur, in der ich dann und wann geschmökert hatte, interessierte mich nicht. Später las ich in den Tagebüchern des Franzosen Julien Green, der in Klagenfurt in der Stadtpfarrkirche begraben liegt: „Die Unterhaltungsliteratur wird vom Teufel geschrieben. Und wir werden wohl nie erfahren, was diese Art von Literaturgattung in der Menschheitsgeschichte angerichtet hat.“Vor ein paar Jahrzehnten hat es die Klagenfurter Stadtregierung verabsäumt, für zehn Millionen Schilling, also 700.000 Euro, die umfangreichen Originalmanuskripte und Tagebücher des weltberühmten Dichters Julien Green zu kaufen, angeblich um die 40.000 Seiten. Ein einziges Romanmanuskript hätte heute diesen Verkaufswert, erzählte mir der vor Kurzem verstorbene Monsignore Markus Mairitsch. Julien Green wollte seine letzten Jahrzehnte in Klagenfurt verbringen. Man hätte ihm nach seinem Wunsch eine große Wohnung oder ein Haus zur Verfügung stellen sollen, wo er seine Bibliothek mit 35.000 Bänden – darunter unzählige antiquarisch wertvolle Bücher – und seine Möbel aus dem Erbe seiner Großeltern aus den amerikanischen Südstaaten unterbringen wollte. Das alles wäre heute im Besitz der Stadt Klagenfurt. Von überall würden Wissenschaftler kommen, aus Japan und aus Amerika, aus Frankreich und aus Australien, um die Originalmanuskripte von Julien Green im Literaturarchiv des Musil-Hauses zu studieren. Außerdem hätte man durch die ungefähr noch anderthalb Jahrzehnte lange Anwesenheit von Julien Green in Klagenfurt eine traurige Lücke schließen können, denke ich manchmal, denn Ingeborg Bachmann ist schon vor langer Zeit fortgegangen und erst als Tote aus Rom nach Klagenfurt wiedergekehrt, auf den Annabichler Friedhof. Als Toter ist auch der 98-jährig in Paris verstorbene Julien Green nach Klagenfurt überführt worden, nachdem ihm der damalige Bischof von Gurk, Egon Kapellari, zu Lebzeiten ermöglicht hatte, in der Stadtpfarrkirche St. Egid eine Gruft zu kaufen, unter einem am Altar stehenden Marienbild, das ihn tief berührt hatte. Als Julien Green einige Jahre vor seinem Tod wieder einmal Klagenfurt besuchte und seine zukünftige Gruft, die gerade renoviert wurde, inspizierte, rutschte er auf dem feuchten Beton aus, fiel zu Boden und sagte: „Noch nicht!“So erzählte es mir der kunstsinnige Monsignore Markus Mairitsch, der von Julien Green zu seiner Letzten Ölung nach Paris gerufen wurde.
„Nichts, was so das Leben staut wie das Lesen; Lies! Staukraftwerk Lesen“, heißt es im Notizbuch „Gestern unterwegs“bei Peter Handke, der im 20 Kilometer von Klagenfurt entfernten Griffen aufgewachsen und, wie Ingeborg Bachmann auch, fortgegangen ist, zuerst längere Zeit nach Salzburg, dann nach Paris. Vom inzwischen verstorbenen Journalisten Andre´ Müller wurde Peter Handke einmal gefragt, ob er sich für ein Genie halte. Handke hat geantwortet: „Ich bin auch kein Schriftsteller! Ich schreibe, ich habe geschrieben, ich werde geschrieben haben!“Ich war glücklich über diese Sätze, als ich sie nach einem längeren Mexiko-Aufenthalt im Flugzeug von Toronto nach Frankfurt in der „Frankfurter Rundschau“las. Ja, das ist es!, dachte ich mir. Auch das ist Schreiben! Schreiben kann man bis zu einem gewissen Grad sogar lernen, auch wenn sich die Worte von Handke querstellen gegen das sogenannte Schreibenlernen, wenn er sagt: „Mein einziges Talent ist seit je die Sehnsucht gewesen; zum Beispiel hab ich nie schreiben können, als Können.“
Schreiben, sage ich, wenn auch nicht im Sinne von Dichtung, lernt man durch das Lesen von Literatur und durch diszipliniertes Üben, wenn man auch bereit ist, den Kampf mit der Sprache aufzunehmen, auch beim Tagträumen, wenn wir eben nicht Löcher, sondern Bilder in die Luft schauen. Aber um lesen zu können, braucht man Bücher, und Klagenfurt hat seit dem Zweiten Weltkrieg – zum Teufel noch einmal – keine eigene Stadtbibliothek. Wird man vielleicht ein ganzes Jahrhundert vergehen und Klagenfurt ohne Bücher dumm sterben lassen? Viel Zeit bleibt nicht mehr auf die hundert Jahre! Was für eine Errungenschaft: 70 Jahre lang keine Bibliothek, schließlich hat man sich dadurch viele Millionen Euro erspart für ein leeres, größenwahnsinniges Fußballstadion. Für die Kapitalverbrechen mit der Hypo-Bank blieb auch mehr Spielraum, ja, es war ein teuflischer Spiel-Raum. „Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmalteufel!“, hat mein Vater oft geflucht, wenn er ungeduldig die kaputte Melkmaschine reparierte. Wie Julien Green ist mein Vater fast hundert Jahre alt geworden. Ein einziges Buch hat er als Kind gelesen, nämlich „Tausendundeine Nacht“in einem Sommer in der Innerkrems, als der 14-Jährige die 30 Schafe seines Vaters auf der Alm hütete. Im Frühherbst, beim Almabtrieb, suchte er unter den 1000 Schafen der anderen Bauern seine Tiere heraus: „Alle Schafe habe ich an ihren Gesichtern wiedererkannt und herausgeklaubt aus den anderen!“, sagte mein Vater zu mir. Und hätte er in diesem Sommer nicht „Tausendundeine Nacht“gelesen, hätte er seine 30 Schafe nicht wiedererkannt an ihren Gesichtern und aus der Tausendundeinen Schafherde nicht mehr herausgefunden. Und schon gar nicht hätte er sie auf seinem fliegenden Perserteppich sicher über das sogenannte Tal der stürzenden Wasser mit der reißenden Lieser und Malta bis ins 70 Kilometer entfernte Heimatdorf zurückbringen können.
Beim Deutschen Bibliotheksverband heißt es, dass in einer Stadt pro Einwohner zwei Medien in einer Stadtbibliothek zur Verfügung stehen müssten. Also haben uns, die wir hier seit Jahrzehnten leben, die BücherEHRabschneider von Klagenfurt um 200.000 Bücher betrogen. Ich habe mir schon überlegt, ob ich vielleicht in der Zeit des IngeborgBachmann-Literaturwettbewerbes, während die internationale Presse anwesend ist, für die erste Stadtbibliothek von Klagenfurt in den Hungerstreik treten und mein Zelt auf dem Neuen Platz beim Lindwurm aufschlagen sollte. Wie sagte schon der französische Essayist Paul Valery:´ „Man darf nicht zögern, das zu machen, was einen die Hälfte seiner Anhänger kostet und die Hälfte der Liebe derer, die noch übrig sind.“
Vor einigen Jahren fuhr ich mit dem Zug von Zagreb über Ljubljana nach Klagenfurt. In meinem Zugabteil saßen zwei Universitätsprofessoren aus Deutschland, die sich ständig über ihr medizinisches Fach unterhielten. Als wir schließlich kurz vor Villach doch noch ins Gespräch kamen, fragte mich der eine, da der Zug eine ordentliche Verspätung hatte, ob ich auch einen Anschluss nach Salzburg suche. „Nein“, sagte ich, „ich bin gleich zu Hause, ich wohne in Klagenfurt.“„Ist das die Stadt, die keine Bibliothek hat?“, fragte der eine. „Ja“, sagte ich, „das ist
die Stadt!“Glauben Sie mir, ich bin schon viel in Europa herumgekommen, meine Bücher werden übersetzt, bald erscheint eines auf Bulgarisch. Muss ich denn demnächst auch in Sofia sagen, dass Klagenfurt keine Stadtbibliothek hat?
Und, um nun etwas unaufgeregter noch einmal zu Sprache und Schreiben zurückzukehren und zum Schluss dieses Donnerwetterns zu kommen, denn wie ich anfangs schon gesagt habe, müssen wir donnern helfen, wenn wir den Himmel der Bücher und der ersten Stadtbibliothek endlich auch in Klagenfurt sehen wollen. Ich möchte Ihnen noch die berühmten Sätze von Franz Kafka, die er an seine Freundin Milena geschrieben hat, in Erinnerung rufen: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.“
Klagenfurt ist deshalb so unglücklich, weil es keine Stadtbibliothek hat. Aber nach Tausendundeiner Nacht in der Warteschleife wird der Tag kommen, an dem ein unendlich lang gezogener Schwarm von mit Büchern beladenen Perserteppichen als den Himmel mit Märchen und Geschichten erhellendes Geschwader Klagenfurt erreicht und die erste Stadtbibliothek von Ala ed-Din mit der Wunderlampe eröffnet wird.
Hebbel schreibt in seinem Tagebuch von Schlangen, die erst beißen und dann dem Gebissenen den schwarzen Giftfleck zum Vorwurf machen. Kärnten gibt für Bibliotheken jährlich einen Euro pro Einwohner aus. In Wien oder Vorarlberg sind es zehn Euro. In Dänemark an die 60.