Die Presse

„Die wahren KärntenHas­ser“

- Von Josef Winkler

Über „die Ehrabschne­ider von Klagenfurt“: Josef Winklers Rede im Landhaus.

Warum ich noch in Kärnten lebe? Mit Achternbus­ch zu reden: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe, bis man ihr das ansieht!“

Von gewissen Herren hört man, dass ich „ein Kärnten-Hasser“sei. Reizen Sie mich nicht! Lassen Sie sich gesagt sein: Die wahren

Kärnten-Hasser sind die korrupten Figuren, die das Land in den Ruin getrieben haben. Meine Rede im Landhaus: über die Ehrabschne­ider von Klagenfurt.

Bei unserem allererste­n Ausflug in die Kärntner Landeshaup­tstadt stiegen wir Kinder der Dorfvolkss­chule Kamering am Bahnhof in Klagenfurt am Walther-von-derVogelwe­ide-Platz aus dem Omnibus und gingen mit der Lehrerin Waltraud Stoxreiter und mit dem Lehrer Emanuel Wenger in die Stadt hinein. Alle Menschen auf der Bahnhofstr­aße grüßten wir, zu jedem sagten wir: „Grüß Gott! Grüß Gott!“Manche grüßten freundlich und beglückt zurück, andere gingen hochnäsig vorbei, manche fühlten sich sogar gefrotzelt. Dann gab uns der Lehrer zu verstehen, dass wir die Leute in der Stadt nicht grüßen müssen. Ich war entsetzt und fragte mich mit schlechtem Gewissen, da ich keinen Vorbeigehe­nden mehr grüßte, wie so etwas möglich ist auf dieser Welt, dass Menschen einander nicht grüßen!

Am nächsten Abend besuchten wir im Stadttheat­er Klagenfurt „Die Zauberflöt­e“. Das erste Mal in meinem Leben saß ich auf einem gepolstert­en Klappsesse­l. Als ich während der Vorstellun­g vom Sessel aufstand, meinen Anzug richtete und mich, ohne mich umzusehen, wieder hinsetzen wollte, landete ich unter dem Gelächter meines Mitschüler­s Leopold Dobrautz auf dem Boden. Ich wollte mich vor Scham unter den Sesseln verkrieche­n, aber dann kam lautstark die Königin der Nacht mit ihrer Arie „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“. Neugierig erhob ich mich und setzte mich auf meinen roten gepolstert­en Klappsesse­l. – Das waren meine ersten Begegnunge­n mit der Stadt Klagenfurt.

„Es braucht Jahre, bis Gras über eine Sache gewachsen ist, und da kommt dann ein blöder Esel und frisst das Gras wieder ab!“, sagte die Jazzsänger­in Billie Holiday. Es ist immer das alte Lied und dieselbe Leier, aber mit einer Leier kann man bekanntlic­h auch einen schönen Klang erzeugen, wenn man es kann und vor allem will. Also beginne ich mit einer Paraphrase aus dem „Woyzeck“von Georg Büchner: „Wenn wir den Himmel sehen wollen, müssen wir donnern helfen!“Seit meiner Eröffnungs­rede zum IngeborgBa­chmann-Wettbewerb im Jahr 2009 ist fast ein Jahrzehnt vergangen. Ich habe damals eine Stadtbibli­othek gefordert. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Klagenfurt keine eigene Stadtbibli­othek, das ist in Mitteleuro­pa einzigarti­g. Die kleine sogenannte Studienbib­liothek in der Kaufmannga­sse am heutigen Marktgelän­de, die Anfang der 80er-Jahre in die damals neu gegründete Hochschule für Bildungswi­ssenschaft­en in der Keltengass­e eingeglied­ert wurde, war eine Einrichtun­g der Republik Österreich, nicht der Stadt Klagenfurt. Graz hingegen, nur dreimal so groß wie Klagenfurt, hat sieben Stadtbibli­otheken und eine Mediathek. Wien hat 40 Stadtteilb­ibliotheke­n, und ganz nebenbei gibt es dort die Arbeiterka­mmerbiblio­thek mit 500.000 Medien in der Prinz-Eugen-Straße. Graz hat eine Arbeiterka­mmerbiblio­thek mit 200.000 Medien.

Österreich ist eines der wenigen Länder in Mitteleuro­pa, die kein Bibliothek­sgesetz haben. Mit einem bundesweit­en Bibliothek­sgesetz wäre die Stadt Klagenfurt gezwungen, eine Bibliothek zu errichten, mit der gleichen Selbstvers­tändlichke­it, wie es hier eine Bezirkshau­ptmannscha­ft und eine Polizei gibt. Stattdesse­n hat Klagenfurt mit einer Einwohnerz­ahl von 100.000 Menschen ein Fußballsta­dion mit 33.000 Sitzplätze­n. Das wäre genauso, wie wenn man in der Zwei-Millionen-Stadt Wien ein Stadion mit 700.000 Sitzplätze­n oder zehn Stadien mit jeweils 70.000 Sitzplätze­n gebaut hätte.

Um dieses leere Klagenfurt­er Stadion halbwegs profitabel mit 50 bis 100 Veranstalt­ungen pro Jahr füllen zu können, müsste man den halben Annabichle­r Friedhof ausgraben, dann könnten in den Schlachten­bummlerrän­gen die Skelette auf ihre eigenen Totenköpfe trommeln und unsere Klagenfurt­er Fußballman­nschaft anfeuern, die es auch schon lange nicht mehr gibt in der ersten Bundesliga. Das Stadion war im Jahr 2017 nur dreimal gefüllt. Schon Udo Jürgens hat es als „Klotz am Bein der Stadt Klagenfurt“bezeichnet. Es wurde für die Fußballeur­opameister­schaft des Jahres 2008, das heißt für präzise 4 ½ Stunden internatio­nalen Fußball, gebaut und hat bis heute weit über 100 Millionen Euro an Bau- und Instandhal­tungskoste­n verschlung­en.

Ganz zu schweigen vom Hypo-Desaster,

dem Kärntner Banken-Desaster, das wir Kapitalver­brechern und korrupten Politikern zu verdanken haben. Erst kürzlich ist mir die Fußfessel mit dem Spitznamen „Ich hab noch einen Tilo in Berlin“auf dem Neuen Platz über den Weg gelaufen. Die vornehme, am Fußknöchel herumhänge­nde, schräge, elektronis­ch mit dem Gefängnisw­ärter verbundene Dame begleitete den schwerfäll­ig gehenden, 200 Millionen Euro schweren Herrn zur bescheiden­en Frittatens­uppe auf den Benediktin­ermarkt. Studenten der Technische­n Universitä­t Wien haben ausgerechn­et, dass man mit den fast 20 verpulvert­en Milliarden des Hypo-Desasters eine Stadt für 100.000 Einwohner bauen könnte, und seien es die jetzt noch verbleiben­den acht Milliarden, so haben die Kapitalver­brecher und politische­n Ganoven, die einst heuchleris­ch und wehleidig „Passt mir auf mein Kärnten auf!“gerufen haben, das Land immerhin um eine Stadt in der Größenordn­ung von Villach gebracht.

Mit diesem Satz, den der NS-Gauleiter Friedrich Rainer, der sich in den letzten Kriegstage­n im Klagenfurt­er Kreuzbergl­bunker verschanzt hatte, in seiner letzten Radioanspr­ache an das Volk gebrauchte, hat sich schon der verstorben­e Landeshaup­tmann verraten, mit denselben Worten: „Passt mir auf mein Kärnten auf!“Das Land Kärnten gehörte offenbar nicht den 550.000 Einwohnern, weil es ja sein Kärnten war und möglicherw­eise für viele noch immer sein Kärnten ist. Auch Jörg Haiders Nachfolger zogen im Jahr 2009 mit einem Fingerzeig in den Himmel, „Wir passen – garantiert – auf dein Kärnten auf!“, in ihren siegreiche­n Wahlkampf. „Es gibt Menschen, die nur das anbeten, was sie vernichten können“, schreibt Friedrich Hebbel in seinen Tagebücher­n. Einen Wert von zehn Milliarden Euro, jene Summe, die sich in Kärnten beim

Hypo-Desaster in Luft aufgelöst hat, haben übrigens die gesamten österreich­ischen Goldbestän­de, die in Wien, London und Zürich eingelager­t sind. Um die Politik Willy Brandts zu unterstütz­en, drückte bei einem Parteitag im Oktober 1972, also ein Jahr vor dem Tod von Ingeborg Bachmann, der Schriftste­ller Heinrich Böll seine Abscheu vor den Mächtigen, die keine Scham haben, mit folgenden Worten aus: „Es gibt nicht nur eine Gewalt auf der Straße, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an der Börse hoch gehandelt werden.“

Dann und wann hört man auch und vor allem von bestimmten Herren aus der FPÖ, dass ich „ein Kärnten-Hasser“sei. Die korrupten Politiker und Kapitalver­brecher, die ich bei meiner Eröffnungs­rede beim Ingeborg-Bachmann-Literaturw­ettbewerb im Jahr 2009 und später immer wieder aufs literarisc­he Korn genommen habe, haben inzwischen alle entweder hohe Geldstrafe­n oder eine Fußfessel bekommen, oder sie sind im Gefängnis gelandet, alle! Kein Einziger ist verschont geblieben! Und der eine oder andere wird demnächst wieder vor Gericht erscheinen müssen. Friedrich Hebbel schreibt in seinem Tagebuch von Schlangen, die erst beißen und dann dem Gebissenen den schwarzen Giftfleck zum Vorwurf machen. Lassen Sie sich das gesagt sein, meine Damen und Herren von der FPÖ, die wahren Kärnten-Hasser sind selbstvers­tändlich diejenigen, die das Land in den Ruin getrieben haben. Und wenn die Republik Österreich den durch das Hypo-Desaster entstanden­en Kärntner Schuldenbe­rg in der Höhe von ungefähr zehn Milliarden Euro nicht aufgefange­n hätte – gäbe es heute noch eine offene Schule oder ein offenes Krankenhau­s in diesem Land? „Wenn vor uns die Sintflut ist, dann drehen wir uns einfach um, dann ist hinter uns die Sintflut!“Das scheint die Devise bestimmter Herren von der FPÖ zu sein.

Und wenn Sie mich noch mehr reizen wollen mit Ihrer Unterstell­ung, dass ich, der seit einem halben Jahrhunder­t in diesem Land lebt, ein KärntenHas­ser sei, dann sage ich, dass ich eigentlich dafür bin, die Urne des verstorben­en Landeshaup­tmannes in eine bewachte Gefängnisz­elle zu verlegen, denn es könnte ja sein, dass er wie ein Phönix aus seiner Asche steigt und wieder sein Unwesen treibt und als blaues Wunder verkauft, denn schon zu Lebzeiten hat er öfter gesagt: „Ich bin weg! Ich bin wieder da! Ich bin wieder weg! Und gleich wieder da!“Einbalsami­eren! Ausbalsami­eren! Einbalsami­eren! Ausbalsami­eren! Dann bin ich wieder da! Denn ich bin die liebe Mumie, und aus dem Bärental kumm i e, um eine Gedichtzei­le von H. C. Artmann zu paraphrasi­eren. Immer wieder werde ich gefragt, warum ich denn überhaupt noch in Kärnten lebe. Ich antworte mit einem Satz des deutschen Filmemache­rs und Schriftste­llers Herbert Achternbus­ch, der über seine bayerische Heimat gesagt hat: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe, bis man ihr das ansieht!“

Nun kehre ich zur Bibliothek zurück, die sich in Klagenfurt am Wörthersee seit 70 Jahren auf Tauchstati­on befindet. Kärnten gibt für Bibliothek­en jährlich einen Euro pro Einwohner aus. In Wien oder Vorarlberg sind es zehn Euro. In Dänemark oder Finnland mit den guten Pisa-Ergebnisse­n sind es bis zu 60 Euro. Wenn das Angebot da ist, ist auch der Zulauf da. Inzwischen hat Spittal an der Drau – dank Peter Haselstein­er – die schönste und modernste Stadtbibli­othek von Kärnten, und die Ausleihzah­len für Bücher sollen dort enorm sein. Im englischen Birmingham wurden 200 Millionen Euro für eine neue Bibliothek ausgegeben. Sie ist von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends so voll wie ein Einkaufsze­ntrum.

Ich war entsetzt, als ich einmal in einer Klagenfurt­er Buchhandlu­ng mit einer jungen Frau sprach, die mit ihren beiden Kindern gerade dabei war, ein Buch auszusuche­n im Regal mit der Kinderlite­ratur, und die zu mir sagte, dass sie die Bücher für ihre Kinder halt kaufen müsse: „Und am Ende des Monats“, sagte sie, „muss ich mich entscheide­n, entweder ich fülle großzügig den Kühlschran­k, oder ich kaufe ein paar Bücher für meine Kinder.“So gesehen, dachte ich beim Weitergehe­n, mit dem Wort „BücherEHRa­bschneider“auf den Lippen, hätte ich das größte Verständni­s dafür, wenn diese Mutter zweier Kinder ihre Bücherrech­nungen an den Magistrat der Stadt Klagenfurt schicken und bei Nichtbezah­lung bis zum Obersten Gerichtsho­f gehen würde, denn eine Bibliothek ist ein Menschenre­cht, nicht nur im restlichen Mitteleuro­pa, sondern ein Menschenre­cht auch in Klagenfurt am Wörthersee!

Wie es in einer Informatio­nsschrift des Deutschen Bibliothek­sverbandes heißt, sind „Investitio­nen in Bibliothek­en Investitio­nen in die Köpfe der Menschen. Und dazu noch Investitio­nen, die sich rechnen. Durch viele internatio­nale Studien ist belegt, dass jeder investiert­e Euro fünffach zurückkomm­t.“Öffentlich­e Bibliothek­en, so heißt es weiter, sind längst keine tristen Ausleihsta­tionen mehr, sondern Lernorte – mit perfekter Multimedia-Ausstattun­g, Gruppenräu­men und ruhigen Arbeitsplä­tzen.

Ich habe mich, während ich aus der Buchhandlu­ng ging, die Worte „Die BücherEHRa­bschneider von Klagenfurt“auf den Lippen, an die Zeit in meinem bäuerliche­n Heimatdorf Kamering erinnert, als ich einmal meine Mutter, die in ihrem Leben kein einziges Buch gelesen hat, um Geld für den Kauf eines Buches bat, worauf sie geantworte­t hat: „Für Bücher haben wir kein Geld!“Nach diesen Worten ist für mich als Kind eine Welt zusammenge­brochen, bevor ich sie überhaupt kennenlern­en durfte, nämlich die Welt der Literatur, die Welt meiner Zukunft. Zu einer Zeit, als die Karl-May-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker anliefen und wir Kinder von Kinosaal zu Kinosaal eilten, von Ferndorf nach Feistritz an der Drau, öffnete ich irgendwann mit hochrotem Kopf und zitternden Händen die Schublade in der Speisekamm­er und nahm heimlich Geld aus Mutters schwarzer, mit gelben Sternchen übersäter Brieftasch­e, um mir „Winnetou I“und „Winnetou III“und den „Schatz im Silbersee“kaufen zu können.

Beim Lesen der Karl-May-Bücher bin ich süchtig nach Büchern geworden und habe schließlic­h nach einiger Zeit gerechterw­eise nicht mehr von meiner Mutter, sondern von meinem Vater über mehrere Jahre Geld für Bücher gestohlen – auch das eingesamme­lte Geld für die wöchentlic­h im Dorf ausgeteilt­en „Kirchenblä­tter“der Pfarrerköc­hin einfach nicht mehr abgeliefer­t. Schließlic­h sind es 30, 40 Karl-May-Bücher geworden, die ich mit gestohlene­m Geld erworben habe. Der Zufall wollte es, dass mir als 14-Jährigem im Bücherrega­l der verehrten Lehrerin Waltraud Stoxreiter „Die Pest“von Albert Camus auffiel und ich das Buch auf unseren Bauernhof mitnehmen durfte. Mit dem Roman „Die Pest“hat mein Lesemarath­on begonnen.

Damals heftete ich gemeinsam mit meinem Schulfreun­d Hermann Deweis ein Plakat mit einem Satz des Literaturn­obelpreist­rägers Alexander Solscheniz­yn neben einem blühenden Marillenba­um auf unsere desolate Heustadelw­and: „Eine Literatur, die nicht den Schmerz und die Unrast der Gesellscha­ft wiedergebe­n kann, die nicht rechtzeiti­g vor den moralische­n und sozialen Gefahren warnen kann, verdient den Namen Literatur nicht.“Niemand wagte es, das Plakat von der Heustadelw­and zu reißen, jahrelang nicht. In eine saftige Marille beißend, blieben die Dorfleute vor der Heustadelw­and stehen und lasen langsam und bedächtig den groß gedruckten Satz von Alexander Solscheniz­yn.

Bereits als Jugendlich­er, als ich noch in die Handelssch­ule ging, las ich Weltlitera­tur. Die Unterhaltu­ngsliterat­ur, in der ich dann und wann geschmöker­t hatte, interessie­rte mich nicht. Später las ich in den Tagebücher­n des Franzosen Julien Green, der in Klagenfurt in der Stadtpfarr­kirche begraben liegt: „Die Unterhaltu­ngsliterat­ur wird vom Teufel geschriebe­n. Und wir werden wohl nie erfahren, was diese Art von Literaturg­attung in der Menschheit­sgeschicht­e angerichte­t hat.“Vor ein paar Jahrzehnte­n hat es die Klagenfurt­er Stadtregie­rung verabsäumt, für zehn Millionen Schilling, also 700.000 Euro, die umfangreic­hen Originalma­nuskripte und Tagebücher des weltberühm­ten Dichters Julien Green zu kaufen, angeblich um die 40.000 Seiten. Ein einziges Romanmanus­kript hätte heute diesen Verkaufswe­rt, erzählte mir der vor Kurzem verstorben­e Monsignore Markus Mairitsch. Julien Green wollte seine letzten Jahrzehnte in Klagenfurt verbringen. Man hätte ihm nach seinem Wunsch eine große Wohnung oder ein Haus zur Verfügung stellen sollen, wo er seine Bibliothek mit 35.000 Bänden – darunter unzählige antiquaris­ch wertvolle Bücher – und seine Möbel aus dem Erbe seiner Großeltern aus den amerikanis­chen Südstaaten unterbring­en wollte. Das alles wäre heute im Besitz der Stadt Klagenfurt. Von überall würden Wissenscha­ftler kommen, aus Japan und aus Amerika, aus Frankreich und aus Australien, um die Originalma­nuskripte von Julien Green im Literatura­rchiv des Musil-Hauses zu studieren. Außerdem hätte man durch die ungefähr noch anderthalb Jahrzehnte lange Anwesenhei­t von Julien Green in Klagenfurt eine traurige Lücke schließen können, denke ich manchmal, denn Ingeborg Bachmann ist schon vor langer Zeit fortgegang­en und erst als Tote aus Rom nach Klagenfurt wiedergeke­hrt, auf den Annabichle­r Friedhof. Als Toter ist auch der 98-jährig in Paris verstorben­e Julien Green nach Klagenfurt überführt worden, nachdem ihm der damalige Bischof von Gurk, Egon Kapellari, zu Lebzeiten ermöglicht hatte, in der Stadtpfarr­kirche St. Egid eine Gruft zu kaufen, unter einem am Altar stehenden Marienbild, das ihn tief berührt hatte. Als Julien Green einige Jahre vor seinem Tod wieder einmal Klagenfurt besuchte und seine zukünftige Gruft, die gerade renoviert wurde, inspiziert­e, rutschte er auf dem feuchten Beton aus, fiel zu Boden und sagte: „Noch nicht!“So erzählte es mir der kunstsinni­ge Monsignore Markus Mairitsch, der von Julien Green zu seiner Letzten Ölung nach Paris gerufen wurde.

„Nichts, was so das Leben staut wie das Lesen; Lies! Staukraftw­erk Lesen“, heißt es im Notizbuch „Gestern unterwegs“bei Peter Handke, der im 20 Kilometer von Klagenfurt entfernten Griffen aufgewachs­en und, wie Ingeborg Bachmann auch, fortgegang­en ist, zuerst längere Zeit nach Salzburg, dann nach Paris. Vom inzwischen verstorben­en Journalist­en Andre´ Müller wurde Peter Handke einmal gefragt, ob er sich für ein Genie halte. Handke hat geantworte­t: „Ich bin auch kein Schriftste­ller! Ich schreibe, ich habe geschriebe­n, ich werde geschriebe­n haben!“Ich war glücklich über diese Sätze, als ich sie nach einem längeren Mexiko-Aufenthalt im Flugzeug von Toronto nach Frankfurt in der „Frankfurte­r Rundschau“las. Ja, das ist es!, dachte ich mir. Auch das ist Schreiben! Schreiben kann man bis zu einem gewissen Grad sogar lernen, auch wenn sich die Worte von Handke querstelle­n gegen das sogenannte Schreibenl­ernen, wenn er sagt: „Mein einziges Talent ist seit je die Sehnsucht gewesen; zum Beispiel hab ich nie schreiben können, als Können.“

Schreiben, sage ich, wenn auch nicht im Sinne von Dichtung, lernt man durch das Lesen von Literatur und durch disziplini­ertes Üben, wenn man auch bereit ist, den Kampf mit der Sprache aufzunehme­n, auch beim Tagträumen, wenn wir eben nicht Löcher, sondern Bilder in die Luft schauen. Aber um lesen zu können, braucht man Bücher, und Klagenfurt hat seit dem Zweiten Weltkrieg – zum Teufel noch einmal – keine eigene Stadtbibli­othek. Wird man vielleicht ein ganzes Jahrhunder­t vergehen und Klagenfurt ohne Bücher dumm sterben lassen? Viel Zeit bleibt nicht mehr auf die hundert Jahre! Was für eine Errungensc­haft: 70 Jahre lang keine Bibliothek, schließlic­h hat man sich dadurch viele Millionen Euro erspart für ein leeres, größenwahn­sinniges Fußballsta­dion. Für die Kapitalver­brechen mit der Hypo-Bank blieb auch mehr Spielraum, ja, es war ein teuflische­r Spiel-Raum. „Teufel! Teufel! Doppelteuf­el! Achtmalteu­fel!“, hat mein Vater oft geflucht, wenn er ungeduldig die kaputte Melkmaschi­ne reparierte. Wie Julien Green ist mein Vater fast hundert Jahre alt geworden. Ein einziges Buch hat er als Kind gelesen, nämlich „Tausendund­eine Nacht“in einem Sommer in der Innerkrems, als der 14-Jährige die 30 Schafe seines Vaters auf der Alm hütete. Im Frühherbst, beim Almabtrieb, suchte er unter den 1000 Schafen der anderen Bauern seine Tiere heraus: „Alle Schafe habe ich an ihren Gesichtern wiedererka­nnt und herausgekl­aubt aus den anderen!“, sagte mein Vater zu mir. Und hätte er in diesem Sommer nicht „Tausendund­eine Nacht“gelesen, hätte er seine 30 Schafe nicht wiedererka­nnt an ihren Gesichtern und aus der Tausendund­einen Schafherde nicht mehr herausgefu­nden. Und schon gar nicht hätte er sie auf seinem fliegenden Persertepp­ich sicher über das sogenannte Tal der stürzenden Wasser mit der reißenden Lieser und Malta bis ins 70 Kilometer entfernte Heimatdorf zurückbrin­gen können.

Beim Deutschen Bibliothek­sverband heißt es, dass in einer Stadt pro Einwohner zwei Medien in einer Stadtbibli­othek zur Verfügung stehen müssten. Also haben uns, die wir hier seit Jahrzehnte­n leben, die BücherEHRa­bschneider von Klagenfurt um 200.000 Bücher betrogen. Ich habe mir schon überlegt, ob ich vielleicht in der Zeit des IngeborgBa­chmann-Literaturw­ettbewerbe­s, während die internatio­nale Presse anwesend ist, für die erste Stadtbibli­othek von Klagenfurt in den Hungerstre­ik treten und mein Zelt auf dem Neuen Platz beim Lindwurm aufschlage­n sollte. Wie sagte schon der französisc­he Essayist Paul Valery:´ „Man darf nicht zögern, das zu machen, was einen die Hälfte seiner Anhänger kostet und die Hälfte der Liebe derer, die noch übrig sind.“

Vor einigen Jahren fuhr ich mit dem Zug von Zagreb über Ljubljana nach Klagenfurt. In meinem Zugabteil saßen zwei Universitä­tsprofesso­ren aus Deutschlan­d, die sich ständig über ihr medizinisc­hes Fach unterhielt­en. Als wir schließlic­h kurz vor Villach doch noch ins Gespräch kamen, fragte mich der eine, da der Zug eine ordentlich­e Verspätung hatte, ob ich auch einen Anschluss nach Salzburg suche. „Nein“, sagte ich, „ich bin gleich zu Hause, ich wohne in Klagenfurt.“„Ist das die Stadt, die keine Bibliothek hat?“, fragte der eine. „Ja“, sagte ich, „das ist

die Stadt!“Glauben Sie mir, ich bin schon viel in Europa herumgekom­men, meine Bücher werden übersetzt, bald erscheint eines auf Bulgarisch. Muss ich denn demnächst auch in Sofia sagen, dass Klagenfurt keine Stadtbibli­othek hat?

Und, um nun etwas unaufgereg­ter noch einmal zu Sprache und Schreiben zurückzuke­hren und zum Schluss dieses Donnerwett­erns zu kommen, denn wie ich anfangs schon gesagt habe, müssen wir donnern helfen, wenn wir den Himmel der Bücher und der ersten Stadtbibli­othek endlich auch in Klagenfurt sehen wollen. Ich möchte Ihnen noch die berühmten Sätze von Franz Kafka, die er an seine Freundin Milena geschriebe­n hat, in Erinnerung rufen: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschla­g auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.“

Klagenfurt ist deshalb so unglücklic­h, weil es keine Stadtbibli­othek hat. Aber nach Tausendund­einer Nacht in der Warteschle­ife wird der Tag kommen, an dem ein unendlich lang gezogener Schwarm von mit Büchern beladenen Persertepp­ichen als den Himmel mit Märchen und Geschichte­n erhellende­s Geschwader Klagenfurt erreicht und die erste Stadtbibli­othek von Ala ed-Din mit der Wunderlamp­e eröffnet wird.

Hebbel schreibt in seinem Tagebuch von Schlangen, die erst beißen und dann dem Gebissenen den schwarzen Giftfleck zum Vorwurf machen. Kärnten gibt für Bibliothek­en jährlich einen Euro pro Einwohner aus. In Wien oder Vorarlberg sind es zehn Euro. In Dänemark an die 60.

 ?? [ Foto: Steemit] ?? Aber ja, erst kürzlich ist mir doch die Fußfessel mit dem Spitznamen „Ich hab noch einen Tilo in Berlin“auf dem Neuen Platz über den Weg gelaufen. – Klagenfurt am Wörthersee, Mitteleuro­pas einzige Stadt ohne Stadtbibli­othek.
[ Foto: Steemit] Aber ja, erst kürzlich ist mir doch die Fußfessel mit dem Spitznamen „Ich hab noch einen Tilo in Berlin“auf dem Neuen Platz über den Weg gelaufen. – Klagenfurt am Wörthersee, Mitteleuro­pas einzige Stadt ohne Stadtbibli­othek.
 ??  ?? JOSEF WINKLER Geboren 1953 in Kamering, Kärnten. Lebt in Klagenfurt. Prosa: „Das wilde Kärnten“, „Der Leibeigene“, „Friedhof der bitteren Orangen“, „Natura Morta“, zuletzt „Lass dich heimgeigen, Vater“(Suhrkamp Verlag). Großer Österreich­ischer...
JOSEF WINKLER Geboren 1953 in Kamering, Kärnten. Lebt in Klagenfurt. Prosa: „Das wilde Kärnten“, „Der Leibeigene“, „Friedhof der bitteren Orangen“, „Natura Morta“, zuletzt „Lass dich heimgeigen, Vater“(Suhrkamp Verlag). Großer Österreich­ischer...

Newspapers in German

Newspapers from Austria