Die Presse

Was Chinesen bei Starbucks von sich zeigen

Das Verhalten heutiger Städter im Kaffeehaus ist noch geprägt vom bäuerliche­n Erbe der Ahnen.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wie einer ein Kaffeehaus betritt, welchen Platz er wählt und wie raumgreife­nd er diesen besetzt, verrät einiges über seinen Charakter, über seine Herkunft auch: In Wien etwa sieht man rasch, ob der neue Gast höfische Wurzeln hat oder ein bäuerliche­s Erbe aus der Provinz.

Na ja, das sind subjektive Beobachtun­gen eines Mitgasts, „anekdotisc­h“nennt man das in der Wissenscha­ft. Aber Psychologe Thomas Talhelm (Chicago) will damit systematis­ch erkunden, woher es kommt, dass manche auf Individual­ität pochen, während andere sich eher in Kollektive einfügen. Das hat man in Vergleiche­n zwischen Kulturen des Westens und Ostasiens versucht, aber die können in die Irre führen, weil es in beiden Regionen beide Typen gibt.

Deshalb konzentrie­rt Talhelm sich auf China, er hat früher bemerkt, dass dort Individual­ismus – und analytisch­es Erfassen der Umwelt – eher im Norden gedeiht, das Sicheinfüg­en in Gemeinscha­ft und Umwelt eher im Süden (Science 603, S. 344). Zum Klären des Hintergrun­ds haben Talhelm und sein Team nun 9000 Gäste in 256 Starbucks-Filialen in sechs Städten beobachtet, von Peking im Norden bis Shanghai im Süden.

Wenn einer dort einen Kaffee trinken geht, setzt er sich eher zu anderen, in Peking bleibt er lieber für sich. Und wenn ihm in Peking ein – von Talhelm platzierte­r – Sessel im Weg steht, räumt er ihn häufiger weg als es der in Shanghai tut, dieser windet sich vorbei. Die Ursache sieht Talhelm im immer noch regierende­n Erbe dieser Stadtbewoh­ner, deren Ahnen Bauern waren, die im Norden haben Weizen angebaut, die im Süden Reis.

Der Anbau von Weizen kann von einzelnen Bauern betrieben werden, der von Reis ist aufwendige­r, er erfordert gemeinsame Aktivitäte­n aller, auch eine von allen organisier­te Bewässerun­g der Felder. Das prägt bis heute, es hat der Modernisie­rung und Verwestlic­hung standgehal­ten, die im Süden Chinas früher und rascher vorangetri­eben wurde als im Norden: „Das Erbe der Landwirtsc­haft scheint für das Alltagsver­halten wichtiger“, schließt Talhelm (Science Advances 25. 4.).

Ist es so? Das Echo ist gespalten, Kritiker weisen darauf hin, dass bei Nord-SüdUntersc­hieden vieles mitspielen kann, bis zum Klima, und dass es etwa in Deutschlan­d und Italien im Norden und Süden auch verschiede­ne Persönlich­keitstypen und Verhaltens­muster gibt, und dass diese nicht durch die Agrikultur der Ahnen erklärbar sind.

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