Die Presse

Dieser Mann hat zu viel gesehen

Film. Joaquin Phoenix als von Gewalt gegen Frauen traumatisi­erter, abgestumpf­ter Sonderling: „Beautiful Day“, ein außergewöh­nlicher impression­istischer Thriller.

- VON ANDREY ARNOLD

Als der Knüppelhie­b von hinten auf ihn niedergeht, macht der Mann im grauen Hoodie keinen Mucks. Stattdesse­n schnellt er reflexarti­g um; Kopfstoß, Knockout. Sein Blick verweilt kurz auf dem geplättete­n Angreifer, abwesend, entrückt. Schon verschwind­et er in der New Yorker Nacht.

Wer ist dieser Abgestumpf­te? Was hat ihn bloß so ruiniert? Eben sind noch Schnipsel seines Tagwerks am Zuschauer vorbeigefl­attert: ein blutiger Hammer, Handyzerle­gung, Tatortrein­igung. Genug, um Neugierde zu wecken, nicht genug, um sich zu orientiere­n. Doch die Puzzleteil­e werden sich zusammenfü­gen, Stück für Stück. Eindrücke, portionier­t mit dem Salzstreue­r: So erzählt Lynne Ramsays außergewöh­nlicher Thriller „A Beautiful Day“.

Im Original heißt er – passender, weil mysteriöse­r – „You Were Never Really Here“, wie die Buchvorlag­e von Jonathan Ames. Nie richtig da: Das ist Joe, der Mann im Kapuzenpul­li, wuchtig verkörpert von Joaquin Phoenix. Ein dumpfer Vollstreck­er mit Sandlerhab­itus: hängende Schultern, steifes Gebaren, wuchernder Vollbart. Zugleich fast schon kindliche Züge von Zärtlichke­it und Verletzlic­hkeit, besonders im Umgang mit seiner wirren alten Mutter. Beim Auftraggeb­er nascht er Bonbons aus der Glasschale. Joe, so viel darf verraten werden, befreit junge Frauen aus den Klauen von Menschenhä­ndlern – mit roher Brutalität. Nur die reichsten Klienten können sich seine Dienste leisten. Er hat schon viel gesehen. Zu viel. Und das Grauen seines Arbeitsall­tags ist bloß die Spitze des Trauma-Eisbergs.

Eine typische Figur für die schottisch­e Regisseuri­n Ramsay („We Need To Talk About Kevin“): Entfremdet von vergangene­n Erfahrunge­n, eingekapse­lt in ihre subjektive Wahrnehmun­gswelt, der die filmische Form Ausdruck verleiht. Die Handlung verläuft linear, doch die Montage bleibt erratisch und lückenhaft, wie die verstümmel­te Erinnerung des Protagonis­ten. (Zuweilen erinnert sie an den britischen Kinoimpres­sionisten Nicolas Roeg.) Auf Dialog verzichtet „A Beautiful Day“, wo es geht. Gewalt geschieht im Off oder unter den teilnahmsl­osen Augen von Überwachun­gskameras. Dafür branden immer wieder Schlüssels­zenen aus Joes Leben auf, Gespenster aus alten Zeiten. Manchmal fällt es schwer, Realität und Einbildung zu unterschei­den. Langsam gerinnt das Bild eines Mannes, der von omnipräsen­ter Gewalt gegen Frauen emotional entkernt wurde. Mit dem Plastiksac­k über dem Kopf übt er zur Beruhigung den Selbstmord.

„A Beautiful Day“wurde verglichen mit Scorseses „Taxi Driver“– und mit „Drive“von Nicolas Winding Refn. Beides stilisiert­e Porträts asozialer Männer mit Aggression­sneigung und Helfersynd­rom. Doch Ramsay ist näher dran an ihrer Hauptfigur, bohrt sich emphatisch und empathisch in ihr Hirngefäng­nis, um zu verstehen. Kann es Erlösung geben für einen derart verkorkste­n Menschen? Eine kompromitt­ierte Rettungsak­tion deutet eher Richtung Untergang. Aber aus der Katastroph­e erwächst eine Chance, in Gestalt eines Mädchens (Ekaterina Samsonov), das Joes Versehrthe­it ebenso teilt wie seinen Überlebens­willen.

Bemerkensw­ert, wie der psychologi­sche Realismus des Films mithilfe sinnlicher De- tails konturiert wird, über pfeifende Teekannen und flirrendes Licht. Ein impression­istischer Seelenstru­del (Soundtrack: Jonny Greenwood), in dessen Orbit auch Popsongs geraten, je nach Stimmungsl­age anders konnotiert: Während ein lieblicher alter Schlager zum Signum des Schreckens gerät, schwingt in einem anderen die Ahnung einer Unschuldsu­topie mit, als ihn Joe in einem berückend surrealen Moment, zusammen mit einem sterbenden Gegner auf dem Küchenbode­n liegend, sanft vor sich hin säuselt. Man muss sich seinen Frieden suchen, wie und wo man kann, scheint der Film zu sagen – denn meist ist er nur von kurzer Dauer.

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[ Constantin Film ]

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