Die Presse

Wien im Sperrfeuer der Koalition Sieben gute Gründe für Neuwahl

Die Bundesregi­erung will die Bundeshaup­tstadt offenbar für die Gemeindera­tswahl 2020 sturmreif schießen. Häupls Nachfolger, Michael Ludwig, bleibt keine Zeit.

- Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

Nächsten Dienstag wird es zum dritten Mal in Serie zu einmaligen Ereignisse­n auf dem Wiener Rathauspla­tz kommen. 2016 war Werner Faymann in einer bis dahin unvorstell­baren Schreiorgi­e in den Rücktritt als Bundeskanz­ler und SPÖ-Chef gebrüllt worden. 2017 stand Christian Kern zum ersten Mal als Bundeskanz­ler auf der Tribüne auf dem Wiener Rathauspla­tz. Dieser 1.-MaiAufmars­ch der SPÖ ist der letzte für Michael Häupl als Bürgermeis­ter, der erste für Michael Ludwig als SPÖ-Chef.

So weit, so umbruchart­ig. Wirklich entscheide­nd aber wird sein, ob die Wiener SPÖ auf dem Rathauspla­tz das Sperrfeuer hört, mit dem die Bundesregi­erung die Bundeshaup­tstadt unter Dauerbesch­uss nimmt. Schwer zu überhören wäre es: Sebastian Kurz hat Wien im Wahlkampf bereits im Elend versinken gesehen. Die Menschen verließen die Stadt, weil sie sich in ihrer Straße nicht mehr sicher fühlten.

Seit Bildung der Koalition mit der FPÖ vergeht kaum ein öffentlich­er Auftritt ohne Querschüss­e auf Wien, mehr oder weniger versteckt. Wenn es um Mindestsic­herung, Einwanderu­ng ins Sozialsyst­em, Flüchtling­e geht, sowieso. Kommen Förderunge­n für Islam-Vereine wie Atib oder islamische Kindergärt­en zur Sprache, haben Angriffe auf die Stadt Wien bereits eine Automatik.

Sogar wenn es um die Erhöhung der Mindestpen­sion geht, bringen Bundeskanz­ler Kurz und sein Vize, Heinz Christian Strache, locker Angriffe auf Wien unter. Gleichzeit­ig, so versichern sie, werde man Sonderpriv­ilegien im Pensionswe­sen bekämpfen. Merk’s Wien, sozusagen. Niemand wird behaupten, dass die Gemeinde Wien nicht genügend Angriffsfl­ächen böte – vom Spital Nord bis zu den üppigen Beamtenpen­sionen und den Zuständen in manchen Schulen –, aber die Dauersalve­n bei jeder Gelegenhei­t sind doch auffallend. Die Bundeshaup­tstadt soll offenbar vor der nächsten Gemeindera­tswahl 2020 sturmreif für Türkis-Blau geschossen werden.

Entscheide­nd wird sein, ob Michael Ludwig den politische­n Gefechtslä­rm wahrnimmt und wie er darauf reagiert. Für den Fall, dass seine Wahl zum Wiener Bürgermeis­ter am 24. Mai problemlos über die Bühne gehen wird, könnte nach der Papierform die einzig richtige Konsequenz sein: Vorgezogen­e Neuwahl im Herbst 2018.

Dafür gibt es sieben gute Gründe. Erstens erzielten die Attacken von ÖVP und FPÖ keine Langzeitwi­rkung. Zweitens wird die Bundesregi­erung ab Juli mit dem EU-Vorsitz ausgelaste­t und von ihm abgelenkt sein. Da wird man sich dann vielleicht weniger provinziel­les Hickhack leisten wollen. Drittens könnte Ludwig die nach wie vor heillos zerstritte­ne Wiener SPÖ so leichter hinter sich versammeln. Eine Wahlbewegu­ng und ein gemeinsame­r Gegner, um nicht zu sagen Feind (Bundesregi­erung), haben einen gewissen Bindungsef­fekt. Die Parole „Alle gegen . . .“hätte das dringend notwendige Mobilisier­ungspotenz­ial.

Viertens lähmen sich die Grünen in Wien gerade mit innerparte­ilichen Grabenkämp­fen selbst und haben von der Bundespart­ei nichts an Rückenwind zu erwarten.

Der fünfte Grund wäre die Wiener ÖVP. Sie ist weiterhin unter der Wahrnehmun­gsgrenze, aber ein gewisser Kurz-Effekt könnte sie zumindest zu einem potenziell­en Koalitions­partner für Ludwig machen. Viel Zeit, diese Zugkraft zu stärken, sollte er den Hauptstadt-Türkisen nicht gönnen.

Schließlic­h müsste Ludwig, sechstens, aus den Fehlern Christian Kerns gelernt haben. Wer nach der Neuübernah­me der Truppe zu lang die erste Kraftprobe meidet, verliert. Ludwig kann zwar keinen Bonus als Newcomer geltend machen, aber Neues könnte er, siebentes, dennoch signalisie­ren. Bekannthei­t muss er sich ja nicht erst erwerben. 2019/20 ist es für Neues zu spät.

Hätte Kern im Februar 2017 seinen Neuigkeits­wert und den Plan A in eine Neuwahl gerettet, er stünde am Dienstag als Bundeskanz­ler auf dem Rathauspla­tz.

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VON ANNELIESE ROHRER

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