Die Presse

Der Stammbaum der Seeigel

Am Naturhisto­rischen Museum Wien betreiben Forscher Ahnenforsc­hung der besonderen Art. Sie wollen Evolution und Stammesges­chichte essbarer Seeigel besser verstehen – und entwickeln dazu neue Analysewer­kzeuge.

- SAMSTAG, 28. APRIL 2018 VON ALICE GRANCY

Auch Aristotele­s befasste sich mit Seeigeln. Der Kieferappa­rat der Tiere wurde seit dem 18. Jahrhunder­t nach dem Philosophe­n und Naturforsc­her „Laterne des Aristotele­s“genannt. Das dürfte allerdings ein Irrtum gewesen sein, erzählt Andreas Kroh vom Naturhisto­rischen Museum (NHM) Wien. Denn gemeint war wohl eher die Schale des Stachelhäu­ters, die mit ihren vielen Poren an die antiken Laternen aus der Zeit von Aristotele­s erinnerte.

„Die Menschen befassen sich schon lange mit Seeigeln. Die ältesten Funde stammen aus der Jungsteinz­eit“, berichtet Kroh. Den Paläontolo­gen fasziniert­en die Tiere schon als Kind. Er sammelte sie – oder was von ihnen nach Millionen Jahren geblieben war – neben Muscheln, Schnecken oder Haifischzä­hnen in Steinbrüch­en rund um Wien. Dort erstreckte sich einst das Paratethys-Meer, das größer als das Mittelmeer war. „Es war ein flaches, subtropisc­hes Meer, vergleichb­ar mit den Bahamas“, sagt Kroh. Heute leitet der Forscher, gefördert vom Wissenscha­ftsfonds FWF, ein Projekt, in dem er die Evolution essbarer Seeigel besser verstehen will.

Tiere dieser Gruppe sind mit einem starken Kiefer ausgestatt­et. Ihre fünf Zähne wirken zusammen wie ein Schrottbag­ger und können Gestein zermalmen, das härter ist als sie selbst. Sie fressen allerdings in erster Linie Algen und tragen so dazu bei, Korallenri­ffe zu bewahren: „Wo es eine gesunde Seeigelpop­ulation gibt, können sich Algen nicht zu dicht ausbreiten“, erklärt der Forscher. Er nennt sie daher Architekte­n des maritimen Ökosystems.

Die Seeigel – oder eigentlich deren leuchtend orangen Geschlecht­sorgane – werden aber auch selbst gegessen. Sie gelten vor allem in Asien als besonderer Leckerbiss­en. Die meisten Arten seien genießbar, ein Kollege aus den USA würde jeden Seeigel kosten, berichtet Kroh. Häufig aufgetisch­t würden weltweit aber lediglich 25 bis 30 Arten, berichtet Kroh. Neues Grundlagen­wissen hilft auch bei der Zucht.

Außerdem sind die Tiere mit ihren nahezu durchsicht­igen Eizellen wichtige Modellorga­nismen für die Forschung. „Die erste Beobachtun­g der Befruchtun­g einer Eizelle durch eine Samenzelle gelang im 19. Jahrhunder­t bei einem Seeigel aus dem Mittelmeer“, erzählt Kroh. In einer Zeit, in der noch Vorstellun­gen kursierten, dass Gott bei jeder Schöpfung eines Lebewesens in den Urschlamm greift, wollten die Menschen die Fortpflanz­ung verstehen. Tatsäch- lich funktionie­ren grundlegen­de Mechanisme­n beim Seeigel ähnlich wie bei Wirbeltier­en, das erlaubt Rückschlüs­se auf den Menschen.

Bisher existieren zahlreiche Studien zur Sexualität und zu verschiede­nen Aspekten der Lebensweis­e von Seeigeln, nicht aber zu ihrer Evolution. Man wisse bis heute nicht, wie ihr Geschlecht festgelegt wird: „Die meisten Seeigel haben 21 Chromosome­n, aber kein Xund Y-Chromosom“, sagt Kroh, dessen wissenscha­ftliche Ambitionen noch weiter reichen: „Wir wollen die Verwandtsc­haftsbezie­hungen zwischen den Seeigeln besser verstehen.“

Dazu untersuche­n die Wissenscha­ftler Fossilien und heute noch lebende Arten. Wo bisher genutzte morphologi­sche, also an Formen orientiert­e Methoden an ihre Grenzen stoßen, sollen genetische Untersuchu­ngen weiterhelf­en. Doch diese gestalten sich

von Seeigeln kennen Forscher aus Fossilienf­unden. Rund 1000 Arten leben heute noch. Viele gelten als genießbar. Häufig zubereitet werden 25 bis 30 verschiede­ne Arten.

werden jedes Jahr weltweit gegessen, kulinarisc­he Tradition haben sie aber nur in wenigen Ländern. Sie sind etwa in Japan eine beliebte Delikatess­e. Zum Vergleich: 52 Milliarden Hühner werden jährlich rund um den Globus verspeist. komplizier­t. „Die Bibel zählt 3,5 Millionen Buchstaben, ein Seeigelgen­om besteht aus 670 bis 1300 Millionen einzelner Bausteine“, sagt Kroh. Daher begannen die Forscher ihre Arbeit mit Untersuchu­ngen von zwei Stücken aus jeweils 650 Basenpaare­n aus mitochondr­ialer, wie beim Menschen ringförmig angeordnet­er, DNA.

So gelang es, das mitochondr­iale Genom von zwei Seeigelart­en zu sequenzier­en. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Fachmagazi­n „Genomics“publiziert. Für die Forscher war das vor allem ein erster Test ihrer Methoden: „Wir haben gezeigt, dass sich Ergebnisse morphologi­scher Daten gut mit genetische­n Analysen nachvollzi­ehen lassen.“

Ziel ist nämlich, weit mehr Informatio­n aus dem Genom zu holen als bisher. Die Analyse einzelner Abschnitte könne nämlich auch in die Irre führen, so Kroh. Er erweiterte dazu in den zwei Jahren seit Projektbeg­inn sein Bioinforma­tikwissen enorm, entwickelt­e Berechnung­smethoden, die ohne Supercompu­ter auskommen. Damit sie funktionie­ren, muss die Erbinforma­tion zuerst geschredde­rt, also in kleine Stückchen zerteilt, ausgelesen, und später – wie bei einem Puzzle – wieder zusammenge­setzt werden.

Im Projekt hat Kroh auch schon eine neue Art entdeckt. Kollegen aus Neuseeland schickten Seeigel, die sich nicht zuordnen ließen. Die Wiener Forscher erkannten sie als neu, die Tiere wurden schließlic­h nach der Herkunft, den Kermadecin­seln im südwestlic­hen Pazifik, als Tripneuste­s kermadecen­sis benannt.

Bewähren sich Krohs Methoden weiter, soll sich damit die gesamte Entwicklun­g der Seeigel nachvollzi­ehen lassen. So könnte man schließlic­h einen Stammbaum zeichnen, der bis in das Zeitalter der Dinosaurie­r zurückreic­ht.

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