Der Stammbaum der Seeigel
Am Naturhistorischen Museum Wien betreiben Forscher Ahnenforschung der besonderen Art. Sie wollen Evolution und Stammesgeschichte essbarer Seeigel besser verstehen – und entwickeln dazu neue Analysewerkzeuge.
Auch Aristoteles befasste sich mit Seeigeln. Der Kieferapparat der Tiere wurde seit dem 18. Jahrhundert nach dem Philosophen und Naturforscher „Laterne des Aristoteles“genannt. Das dürfte allerdings ein Irrtum gewesen sein, erzählt Andreas Kroh vom Naturhistorischen Museum (NHM) Wien. Denn gemeint war wohl eher die Schale des Stachelhäuters, die mit ihren vielen Poren an die antiken Laternen aus der Zeit von Aristoteles erinnerte.
„Die Menschen befassen sich schon lange mit Seeigeln. Die ältesten Funde stammen aus der Jungsteinzeit“, berichtet Kroh. Den Paläontologen faszinierten die Tiere schon als Kind. Er sammelte sie – oder was von ihnen nach Millionen Jahren geblieben war – neben Muscheln, Schnecken oder Haifischzähnen in Steinbrüchen rund um Wien. Dort erstreckte sich einst das Paratethys-Meer, das größer als das Mittelmeer war. „Es war ein flaches, subtropisches Meer, vergleichbar mit den Bahamas“, sagt Kroh. Heute leitet der Forscher, gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF, ein Projekt, in dem er die Evolution essbarer Seeigel besser verstehen will.
Tiere dieser Gruppe sind mit einem starken Kiefer ausgestattet. Ihre fünf Zähne wirken zusammen wie ein Schrottbagger und können Gestein zermalmen, das härter ist als sie selbst. Sie fressen allerdings in erster Linie Algen und tragen so dazu bei, Korallenriffe zu bewahren: „Wo es eine gesunde Seeigelpopulation gibt, können sich Algen nicht zu dicht ausbreiten“, erklärt der Forscher. Er nennt sie daher Architekten des maritimen Ökosystems.
Die Seeigel – oder eigentlich deren leuchtend orangen Geschlechtsorgane – werden aber auch selbst gegessen. Sie gelten vor allem in Asien als besonderer Leckerbissen. Die meisten Arten seien genießbar, ein Kollege aus den USA würde jeden Seeigel kosten, berichtet Kroh. Häufig aufgetischt würden weltweit aber lediglich 25 bis 30 Arten, berichtet Kroh. Neues Grundlagenwissen hilft auch bei der Zucht.
Außerdem sind die Tiere mit ihren nahezu durchsichtigen Eizellen wichtige Modellorganismen für die Forschung. „Die erste Beobachtung der Befruchtung einer Eizelle durch eine Samenzelle gelang im 19. Jahrhundert bei einem Seeigel aus dem Mittelmeer“, erzählt Kroh. In einer Zeit, in der noch Vorstellungen kursierten, dass Gott bei jeder Schöpfung eines Lebewesens in den Urschlamm greift, wollten die Menschen die Fortpflanzung verstehen. Tatsäch- lich funktionieren grundlegende Mechanismen beim Seeigel ähnlich wie bei Wirbeltieren, das erlaubt Rückschlüsse auf den Menschen.
Bisher existieren zahlreiche Studien zur Sexualität und zu verschiedenen Aspekten der Lebensweise von Seeigeln, nicht aber zu ihrer Evolution. Man wisse bis heute nicht, wie ihr Geschlecht festgelegt wird: „Die meisten Seeigel haben 21 Chromosomen, aber kein Xund Y-Chromosom“, sagt Kroh, dessen wissenschaftliche Ambitionen noch weiter reichen: „Wir wollen die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Seeigeln besser verstehen.“
Dazu untersuchen die Wissenschaftler Fossilien und heute noch lebende Arten. Wo bisher genutzte morphologische, also an Formen orientierte Methoden an ihre Grenzen stoßen, sollen genetische Untersuchungen weiterhelfen. Doch diese gestalten sich
von Seeigeln kennen Forscher aus Fossilienfunden. Rund 1000 Arten leben heute noch. Viele gelten als genießbar. Häufig zubereitet werden 25 bis 30 verschiedene Arten.
werden jedes Jahr weltweit gegessen, kulinarische Tradition haben sie aber nur in wenigen Ländern. Sie sind etwa in Japan eine beliebte Delikatesse. Zum Vergleich: 52 Milliarden Hühner werden jährlich rund um den Globus verspeist. kompliziert. „Die Bibel zählt 3,5 Millionen Buchstaben, ein Seeigelgenom besteht aus 670 bis 1300 Millionen einzelner Bausteine“, sagt Kroh. Daher begannen die Forscher ihre Arbeit mit Untersuchungen von zwei Stücken aus jeweils 650 Basenpaaren aus mitochondrialer, wie beim Menschen ringförmig angeordneter, DNA.
So gelang es, das mitochondriale Genom von zwei Seeigelarten zu sequenzieren. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Fachmagazin „Genomics“publiziert. Für die Forscher war das vor allem ein erster Test ihrer Methoden: „Wir haben gezeigt, dass sich Ergebnisse morphologischer Daten gut mit genetischen Analysen nachvollziehen lassen.“
Ziel ist nämlich, weit mehr Information aus dem Genom zu holen als bisher. Die Analyse einzelner Abschnitte könne nämlich auch in die Irre führen, so Kroh. Er erweiterte dazu in den zwei Jahren seit Projektbeginn sein Bioinformatikwissen enorm, entwickelte Berechnungsmethoden, die ohne Supercomputer auskommen. Damit sie funktionieren, muss die Erbinformation zuerst geschreddert, also in kleine Stückchen zerteilt, ausgelesen, und später – wie bei einem Puzzle – wieder zusammengesetzt werden.
Im Projekt hat Kroh auch schon eine neue Art entdeckt. Kollegen aus Neuseeland schickten Seeigel, die sich nicht zuordnen ließen. Die Wiener Forscher erkannten sie als neu, die Tiere wurden schließlich nach der Herkunft, den Kermadecinseln im südwestlichen Pazifik, als Tripneustes kermadecensis benannt.
Bewähren sich Krohs Methoden weiter, soll sich damit die gesamte Entwicklung der Seeigel nachvollziehen lassen. So könnte man schließlich einen Stammbaum zeichnen, der bis in das Zeitalter der Dinosaurier zurückreicht.