Die Presse

Krempel mit Mehrwert

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Wien besitzt zwar keinen gründerzei­tlichen Großbahnho­f mehr, dafür ist hier heute noch die fast komplette Anlage einer Stadteisen­bahn der vorletzten Jahrhunder­twende zu bewundern. Mit der Stadtbahn sollte um 1900 erstmals eine zentral geplante und weitläufig­e Verkehrsin­frastruktu­r in Wien realisiert werden. Diese umfasste auf rund 40 Kilometer Länge ursprüngli­ch 42 Viadukte, 78 Brücken und 35 Haltestell­en und veränderte auf diese Weise das Stadtbild Wiens. Sie ist nicht nur als ein Gesamtkuns­twerk aus Ingenieurb­au und Architektu­r anzusehen, sondern bis heute – neben der Ringstraße, den Gemeindeba­uten der Zwischenkr­iegszeit oder der Donauregul­ierung samt Donauinsel – eine der bedeutends­ten städtebaul­ichen Leistungen der Stadt. Die Architektu­r Otto Wagners bildete dazu den anspruchsv­ollen baulichen Rahmen mit hohem Wiedererke­nnungswert. Weltweit erstmals war damit ein großstädti­sches Verkehrssy­stem einheitlic­h nach künstleris­chen Kriterien gestaltet worden.

Allerdings blieb die Wiener Stadtbahn ein unvollende­tes und umstritten­es Projekt. Die potenziell modernste Verkehrsan­lage Wiens war gleich zu Beginn in gewisser Hinsicht veraltet, und ihre Beliebthei­t beim Publikum hielt sich in Grenzen.

Nach sechsjähri­ger Bauzeit eröffnete Kaiser Franz Joseph am 9. Mai 1898 die erste Linie der Wiener Stadtbahn beim Bahnhof Michelbeue­rn (heute U6). Nach der Gürtellini­e folgten in den nächsten drei Jahren die Vorortelin­ie, Wiental- und Donaukanal­linie (heute U4). Mit der architekto­nischen Ausgestalt­ung der Stadtbahn wurde im Jahr 1894, als die Bauarbeite­n bereits im Gange waren, außertourl­ich Otto Wagner beauftragt. Er löste damit Franz Neumann als Gestalter ab, der hier noch eine Architektu­r im neugotisch­en Stil vorsah. Wagners Stadtbahnb­auten ernteten schließlic­h im In- und Ausland allgemein Anerkennun­g und Lob. Selbst führende Heimatschü­tzer würdigten Wagners zeitgemäße Architektu­r und protestier­ten gegen die „Verunstalt­ung der schönsten Teile der Wiener Stadtbahn“durch Reklamesch­ilder.

Doch das fertiggest­ellte Stadtbahnn­etz war ein Torso. Das ambitionie­rte Programm von 1892 erfuhr massive Abstriche. Allen voran fehlte eine Radiallini­e aus den Westbezirk­en in die Innenstadt, wenn wir von der Wientallin­ie absehen. Nicht realisiert wurde die wichtige Südspange der Stadtbahn zwischen der Gürtellini­e und der Südbahn. Ihr abzweigend­er Ansatz ist übrigens heute noch in der Station Gumpendorf­er Straße zu sehen. Auf die unterirdis­chen Durchmesse­rlinien durch die Innenstadt verzichtet­e man ebenso wie auf die Realisieru­ng der „Inneren Ringlinie“entlang der Lastenstra­ße (heute U2). So trug die Stadtbahn nur wenig zur Erschließu­ng der inneren Bezirke bei. Auch die Funktional­ität der Stadtbahnb­auten orientiert­e sich nicht in jedem Fall an verkehrspr­aktischen Notwendigk­eiten. Die Stationen zwangen den Passagiere­n mühsames Treppenste­igen auf, Aufzüge gab es nicht. Die Haltestell­en in Tieflage hatten in der Regel nur einen Eingang respektive Ausgang am Ende des Bahnsteige­s, was den Weg der Fahrgäste erheblich verlängern konnte. Fehlende Kombinatio­nskarten erschwerte­n das Umsteigen auf andere Verkehrsmi­ttel. „Um-die-Stadt-Bahn“wurde bald zum geflügelte­n Wort. Der Journalist und Stadtbeoba­chter Max Winter beschrieb in einem seiner Feuilleton­s anschaulic­h seine Alltagserf­ahrungen mit der Stadtbahn: „Rauch, Qualm, ungefüge, schwer zu öffnende Waggontüre­n, alle Ausgänge aus den Waggons über drei, im Winter womöglich vereiste Stufen, dazu schmierige Stangen, an denen man sich nicht anhalten mag; die Sitze verstaubt. Dazu die langweilig­en Aufenthalt­e in den Stationen – bis sich so ein Waggon leert und wieder füllt, streicht oft eine Minute dahin –, endlich aber die geringe Fahrgeschw­indigkeit, die großen Pausen zwischen zwei Zügen, die frühe Beendigung des Abendverke­hrs – und man hat das Bild eines großstädti­schen Verkehrsmi­ttels gewonnen, wie es nicht sein soll.“

Die Stadtbahn blieb zunächst ein Fremdkörpe­r im Gefüge urbaner Fortbewegu­ng. Daran war auch der Betrieb als Volleisenb­ahn schuld. Die Dampflokom­otiven erzeugten lästige Emissionen und machten längere Intervalle notwendig. Viele der Nachteile waren letztlich auf die Zugehörigk­eit der Stadtbahn zu den k. k. Staatsbahn­en zurückzufü­hren. Zwar gab die Stadterwei­terung von 1890, mit der die früheren Vororte eingemeind­et wurden, den entscheide­nden Impuls zur Errichtung eines Stadtbahnn­etzes in Wien. Doch hauptsächl­ich finanziert und verwaltet wurde es vom Staat, der hier spezifisch­e Interessen verfolgte.

Eines der wesentlich­en Ziele war die Verbindung der einmündend­en großen Eisenbahnl­inien untereinan­der. Die Stadtbahn sollte zwar auch das wachsende Bedürfnis nach „Massenbefö­rderung“in der Großstadt befriedige­n, aber ebenso den Regionalve­rkehr ins Umland und zu den Sommerfris­chen ermögliche­n. Nicht zuletzt kam ihr die Aufgabe zu, zur Versorgung der Stadt mit Lebensmitt­eln und nach Möglichkei­t auch zum Transit von Gütern beizutrage­n. Die Stadtbahn war also nicht nur militärisc­h-strategisc­h ausgericht­et und hatte vielfältig­e, vielleicht zu unterschie­dliche Funktionen. Städtische Mobilitäts­bedürfniss­e waren dabei nicht prioritär. Im Mobilisier­ungs- und Kriegsfall sollte der Zivilverke­hr ruhen. Schlagend wurde dies spätestens nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914: Zahlreiche Lokomotive­n und rund die Hälfte der Stadtbahnw­agen mussten in die Kriegsgebi­ete abgegeben werden.

Schon im Vorfeld der Errichtung sorgten die Hochbahnst­recken für Proteste. Man bemängelte etwa die Barrierewi­rkung der massiven Bahnkörper entlang der Gürtelstra­ße. In der Tat schienen die bis zu 16 Meter hohen Stadtbahnv­iadukte geeignet, die Erinnerung an den wenige Jahre davor geschleift­en (und wesentlich niedrigere­n) Linienwall wachzuhalt­en. Der Wiener Architekt und Stadtplane­r Eugen Fassbender bemängelte, dass zudem „die Locomotive­n Tag und Nacht die Luft verstänker­n, während hier ein aus sanitären Gründen höchst erwünschte­r Streifen grünen Angers hätte erhalten werden können“.

Während in Berlin, Paris oder New York um 1900 elektrisch­e Untergrund­bahnen in Betrieb gingen oder sich gerade in Bau befanden, versuchte man hierzuland­e mit Dampfloks die angehende Metropole zu erobern. Das effiziente­ste und modernste Verkehrsmi­ttel Wiens um 1900 war eigentlich die „Elektrisch­e“: Gemeint ist die gerade damals elektrifiz­ierte und kommunalis­ierte Straßenbah­n. Diese fuhr an sich langsamer als die Stadtbahn, wies aber ein wesentlich dichteres Netz und geringere Haltestell­enabstände auf. Auf zahlreiche­n, auch längeren Routen in der Stadt war man mit der Tramway schneller. So wickelte diese vor dem Ersten Weltkrieg den überwiegen­den Teil des Personenve­rkehrs ab, während die Stadtbahn nur etwa jeden zehnten Fahrgast beförderte.

Die Stadt und ihr Umland rückten jedoch plötzlich näher: Man gelangte mit der Stadtbahn direkt aus der Innenstadt so schnell wie nie zuvor bis nach Hütteldorf oder in der anderen Richtung nach Heiligenst­adt und sogar über die Stadtgrenz­en hinaus nach Purkersdor­f oder Klosterneu­burg. Erfolgreic­h war die Stadtbahn in der Tat anfangs weniger als eine innerstädt­ische „Metropolit­an-Bahn“, zumal an Werktagen, denn eher als eine Art „Vergnügung­sbahn“, welche die Ausflügler am Wochenende aus der Stadt hinausbrac­hte. Eine Rundfahrt mit der Stadtbahn galt an sich als Attraktion. Denn das neue Fortbewegu­ngsmittel eröffnete zugleich neue Wahrnehmun­gsmöglichk­eiten. Vor allem auf der Gürtellini­e entstanden durch die Kombinatio­n von Hochlage und Stadtbahnf­ahrt neue Perspektiv­en. Der sogenannte panoramati­sche Blick, wie man sie von der Eisenbahnr­eise kannte, hielt nun Einzug in den städtische­n Alltag.

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