In der Stille der Geschichte
Anna Seghers, die wohl bedeutendste deutsche Erzählerin ihrer Generation, wurde 1900 als Netty Reiling in Mainz geboren. Ihr Debüt erschien 1928 („Die Fischer von St. Barbara“), im selben Jahr trat sie der kommunistischen Partei bei. Der Roman „Transit“, den Seghers bereits 1941 in Marseille zu entwerfen begann, erschien zwei Jahre nach Kriegsende in Deutschland und behandelt sehr konkret Seghers eigene Flucht 1940/41, als sie sich mit den beiden Kindern in Frankreich um die Ausreise bemühte, während ihr Mann, Laszlo Radvanyi,´ interniert war. Einschneidende Erlebnisse wie das Überholtwerden der Flüchtlinge durch die Wehrmacht erscheinen ebenso im Roman wie die bizarre Problematik, dass sehr wohl der Autorin Anna Seghers, nicht aber der bürgerlichen Netty Radvanyi´ ein Visum ausgestellt werden sollte.
Der Ich-Erzähler in „Transit“ist ein junger Deutscher, ein Monteur – kein prominenter Emigrant, und seinen wirklichen Namen erfahren wir nicht – auf der Flucht vor den Nazis, der durch einige Zufälle für den Schriftsteller Weidel gehalten wird und so ein Visum für Mexiko bekommt. Dafür ist aber das „Transit“, die Durchreiseerlaubnis für USA und Spanien, notwendig. Der junge Mann unterscheidet sich von den unzähligen anderen Flüchtlingen darin, dass er eigentlich nicht weg will, sondern in Frankreich bleiben, auf einer „Farm“arbeiten möchte. Der Schriftsteller Weidel hat sich auf der Flucht umgebracht, in Marseille sucht ihn seine Frau Marie, die ihn zwar verlassen hat und nichts von seinem Tod weiß, aber wegen ihres eigenen Visums von ihm abhängig ist und darüber hinaus nicht vollständig von ihm lassen kann.
Zuerst ist sie für den jungen Deutschen eine unbekannte, geheimnisvolle Frau, in die er sich verliebt. Als er erfährt, dass sie Weidels Frau ist, bemüht er sich, für sie und für den Schriftsteller (also für ihn) die Papiere zusammenzubekommen, ohne ihr seine falsche Identität zu offenbaren. Die Frau verpasst ihren Mann immer wieder. Da Marie von den Angestellten des mexikanischen Konsulats und anderen deutschen Emigranten stets gesagt wird, man habe ihren Mann eben noch gesehen, muss sie vermuten, dass er noch lebt – und sich vor ihr versteckt. Mittlerweile lebt sie mit einem deutschen Arzt zusammen, der wegen ihr schon eine Passage unbenutzt verstreichen ließ: Eine Liebesgeschichte nach antikem Schema – zwei Männer begehren eine Frau, die eigentlich einen dritten liebt, der tot ist. Zinnemann zu Welterfolg – und ist ebenso wie Petzolds Verfilmung eine der Ausnahmen von Hitchcocks Regel, man könne nur schlechte Bücher verfilmen.
Der Film „Transit“von Christian Petzold ist eine Adaption des Romans von Anna Seghers und zugleich mehr und wiederum etwas anderes. Die Erzählerposition wechselt zum Kellner des Mont Ventoux, jenem Lieblingscafe´ des Segherschen Protagonisten, der im Film Georg heißt. In Paris soll Georg einem Schriftsteller zwei Briefe ins Hotel bringen, der Schriftsteller hat sich umgebracht, Georg schlägt sich mit einem verwundeten Freund nach Marseille durch, wird dort vom mexikanischen Konsul freundlich aufgenommen, eine sehr junge Frau taucht immer wieder auf, hält Georg für einen anderen, bis er den Arzt trifft, der den kleinen Sohn des mittlerweile verstorbenen Freundes behandeln soll.
Die Figuren sprechen die schöne Sprache Seghers, aber heutig. Sie tragen Kleider, die man heute kaufen kann. Manchmal taucht ein Trupp der französischen Spezialpolizei auf, Männer in schutzsicheren Westen und mit Maschinengewehren im Anschlag. Statt einen historischen Film zu drehen, hat Petzold die Geschichte ins heutige Marseille verlegt. Die Handlung ist die gleiche geblieben, aber in eine andere, unsere Zeit überführt worden.
„Geschichtsstille“, einen Begriff von Georg K. Glasers Autobiografie „Geheimnis und Gewalt“, wendet der Regisseur auf die Situation flüchtender Menschen an, die sich in einem geschichtslosen Zustand zwischen Aufbruch und Ankunft befinden, denen die Geschichte den Wind aus den Segeln genommen hat. Denken wir an die französische Hafenstadt, sehen wir die Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer, vielleicht auch die Viertel der Einwanderer, möglicherweise assoziieren wir den Dschungel bei Calais, der während der Dreharbeiten mehrfach geräumt wurde. Auch wenn im Film keine einzige plumpe Analogie hergestellt wird, ist in jedem Moment sichtbar, dass die Geschichtsstille ein jedem Menschen innewohnender Zustand sein kann und dass die elementaren Erfahrungen einer Flucht weder orts- noch zeitspezifisch sind.