Gebücktes Weiblein, Lenin-Porträt
QEinig waren sich die Lager nur darin, dass der ukrainische Staat die Aufklärung hintertreibt. Ausschließlich prorussische Aktivisten wurden für das Massaker in Untersuchungshaft genommen, die 19 Angeklagten wurden 2017 freigesprochen.
Ich ging vor das eingezäunte Gewerkschaftshaus, zur wöchentlichen „TrauerDemo“der „Mütter von Odessa“. Diesmal war gut die Hälfte der maximal 50 Demonstranten Hinterbliebene, fast alles Mütter. Ihre dominante Leiterin hatte eine Petition gegen die Exhumierung der Toten aufgesetzt, nach meinem Eindruck unterschrieben alle.
Die meisten Mütter erschienen mir als normale Odessa-Omas, wie sie mir seit 2001 vertraut waren. Nur einige wenige wirkten marginal, so das gebückte Weiblein mit gesticktem Lenin-Porträt: „Heute hat Wladimir Iljitsch Geburtstag!“Ein Funktionär der verbotenen KP, geborener Libanese, sprach einen schwungvollen Aufruf zu seiner Mai-Parade. Zwei oder drei Mütter riefen: „Wir kommen.“Dann bereitete die Leiterin die Großdemo vom 2. Mai 2018 vor. Keine prorussischen Symbole wie das Sankt-GeorgsBändchen tragen, „das wird gegen uns verwendet“: „2500 Polizisten und Nationalgardisten werden aufgeboten, wir müssen mit allem rechnen.“
Als die Mütter von Odessa gegangen waren, blieb ich umringt von drei älteren Frauen. Eine sprach wenig, eine war ein hageres Betmütterchen aus dem Orthodoxen-Zelt, das hier an der Stelle der abgerissenen Erzengel-Michael-Kirche aufgeschlagen worden war, und die dritte war eine fanatische Medizinprofessorin mit Gewaltfantasien gegen „Bandera-Faschisten“. Sie behauptete, im Rauch des Gewerkschaftshauses über die wüst entstellte Leiche der blonden Kristina gestolpert zu sein. Ich fragte die drei, was sie vom Leiter des Polizeieinsatzes hielten. Dmitrij Furtschedschi floh nach Transnistrien und wird verdächtigt, mit seinem Nichteingreifen die Opferzahlen bewusst hinaufgetrieben und so einen russischen Opferkult ermöglicht zu haben. Für die Medizinprofessorin war Furtschedschi ein Held, er habe viele durch Verhaftung gerettet. Die anderen widersprachen leise.
Der Schatten des Gewerkschaftshauses wurde immer länger, wir gingen immer weiter von ihm weg, in die Sonne. Einmal wurde ich weggezogen: „Hier nicht hinstellen, hier sind Menschen umgekommen.“