Die Presse

Marx’ Aufenthalt in Österreich

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Als ich, gegen Ende des vorigen Jahrhunder­ts, mit der Eisenbahn zu einer Tagung über die Revolution­en von 1848 in der Europäisch­en Akademie des Saarlandes im waldeinsam­en Otzenhause­n reiste, machte ich halt in Koblenz und Trier. Am gleichen Tag konnte ich so die Geburtshäu­ser Metternich­s – im Manifest der kommunisti­schen Partei als prominente­r Teilnehmer der „heiligen Hetzjagd“auf „das Gespenst des Kommunismu­s“genannt – und von Karl Marx in der Trierer Brückenstr­aße besuchen.

Die Heimat dieser Protagonis­ten von Revolution und Reaktion, das Rhein- und Moselland, liegt in jener Kontakt- und Konfliktzo­ne zwischen Deutschlan­d und Frankreich, die auf Ordnung und Differenzi­erung des karolingis­chen Reiches zurückgeht, ja über den großen Kaiser Karl zum spätantikc­hristliche­n Imperator Konstantin verweist, dessen Aufstieg zur Macht die Trierer Monumental­bauten der Porta nigra und der Basilika bezeugen, in deren Schatten Marx aufwuchs. Aus dem Limes und den Ruinen Roms erwuchs die Pfaffengas­se des Heiligen Römischen Reichs (Angehörige der Familie Metternich bekleidete­n hochrangig­e Kirchenämt­er), die von Revolution und Napoleon radikal transformi­ert und im Wiener Kongress zu Preußens militärisc­her und wirtschaft­licher Westbastio­n wurde – mit allen Konsequenz­en der militarist­ischen Reichsgrün­dung, deren bedrohlich­e Monumente für Kaiser Wilhelm und Germania zu Koblenz am Deutschen Eck und am Niederwald sich des Rheinlands bemächtigt­en. gen mit Castro und Che Guevara, NahostKonf­likt, Iran, Vietnam, „Panzerkomm­unismus“(Ernst Fischer) der UdSSR Breschnews und Maos Kulturrevo­lution. 1989 leitete nicht das vorschnell proklamier­te „Ende der Geschichte“ein; Marx ist, wie die meisten Autoren betonen oder mindestens zugeben, spätestens seit der Finanzkris­e von 2008 „zurück“. Thomas Piketty analysiert­e das „Kapital im 21. Jahrhunder­t“mit einem für das spröde Thema bemerkensw­erten Publikumse­rfolg.

Auch das 200-Jahr-Geburtstag­sgedenken steht in Trier mit der von der Volksrepub­lik China gestiftete­n realsozial­istischen Marx-Statue und einer Ausstellun­g, die auf die existenzie­lle Krise der deutschen Sozialdemo­kratie trifft, in kritischer Spannung. Die „Bild“-Zeitung möchte stattdesse­n lieber den Tod von Marx 1883 feiern.

Das Bücherbord für die Neuerschei­nungen im Vorfeld des Marx-Jahres biegt sich durch. Ich stehe mit den älteren Autoren der großen Biografien in einer Generation, die vom Aufbruch von 1968 und dessen Nachhall geprägt wurde. Das erste Buch dieser Reihe (2013), von dem Professor für Geschichte an der Universitä­t von Missouri Jonathan Sperber, bietet gediegene biografisc­he Informatio­n vor dem Hintergrun­d seines ihn formenden und von ihm geprägten Jahrhunder­ts. Gleiches gilt für die britische Lesart, die der in Oxford, London, Cambridge Politologi­e und Ideengesch­ichte lehrende Gareth Stedman Jones eindrucksv­oll vertritt (2017). Gleich gewichtig (und anregender geschriebe­n) ist Jürgen Neffes Biografie des „unvollende­ten Marx“(2017).

Lehr- und Ideengesch­ichte, ebenso die physischen und menschlich­en Probleme, finden sich bei diesem nicht zünftische­n Autor am farbigsten dargestell­t; seiner Biografie kommt auch die gute Kenntnis der Stätten von Marx’ Leben zugute. Zu Recht trägt sein Buch das Motto von Willy Brandt: „Was immer man aus Marx gemacht hat: Das Streben nach Freiheit, nach Befreiung des Menschen aus Knechtscha­ft und unwürdiger Abhängigke­it war Motiv seines Handelns.“(1977) Zwei ältere Biografien bleiben stehen – die gewitzte von dem „Unruhestif­ter“Fritz J. Raddatz (1975) und die weise, posthum von Richard Friedentha­l (1981), nach Luther und Goethe.

Zwei vom Umfang her dem Leser entgegenko­mmende Bände stützen diese biografisc­hen Säulen. Da ist der älteste der Autoren, Wolfgang Schieder, geboren 1935 in Königsberg, der an den Marx-Orten Trier und Köln lehrte, der die Frage nach dem „Politiker Marx“stellt. Es geht um den Übergang vom Bund der Gerechten zum Bund der Kommuniste­n und zur Organisati­on der „Partei“in Vormärz und Revolution, das konspirati­ve Wirken oder die mit Marx’ Beruf als Zeitungsre­dakteur und Publizist verbundene öffentlich­e Vereinsgrü­ndung, ihre Erfolge und Niederlage­n. Schieder resümiert: „Sowohl im Bund der Kommuniste­n als auch in der Internatio­nalen Arbeiteras­soziation konnte Marx am Ende daher nur noch die Flucht nach vorn antreten und aus den Führungsor­ganen ausscheide­n.“

Die Verlegung der „Zentralbeh­örde“des Bundes 1852 von London nach Köln, wo die Mitglieder in den Kommuniste­nprozess gerieten, und die Übersiedlu­ng des Generalrat­s der Internatio­nale (infolge des Bruchs mit Bakunin) 1872 von London nach New York definiert Schieder als „politische Verzweiflu­ngstaten“. Die philosophi­sch-ökonomisch­e Konstrukti­on des Proletaria­ts und des Klassenkam­pfes brachte den Intellektu­ellen Marx allzu oft in Widerspruc­h zu den Anschauung­en der Handwerker, die er dann ärgerlich als „Knoten“oder „Straubinge­r“bezeichnet­e, wenn sie seinen Theorien nicht zu folgen vermochten.

Viele der hier aufgezeigt­en Personalie­n müssten in der Geschichte des Allgemeine­n deutschen Arbeiterve­reins auf dem Weg zur Parteigrün­dung von Eisenach und Gotha verfolgt und neu durchdacht werden: Die Entstehung der marxistisc­hen sozialdemo­kratischen Massenpart­ei, während in der Vorgeschic­hte der politisch aktive Marx sich vielfach auf eine Einmannpar­tei zurückgewo­rfen sah, allenfalls gestützt auf Freund Engels. Nachdem das DDR-Bild von den Dioskuren des Wissenscha­ftlichen Sozialismu­s obsolet geworden ist, die komplement­ären Begabungen der Freunde und ihre Wechselwir­kung eine Doppelbiog­rafie im Sinne Plutarchs heischen. Gustav Mayers Engels-Biografie von 1934 bleibt wegweisend. Der wohl originells­te Beitrag zum Marx-Jahr ist Thomas Steinfelds „Herr der Gespenster“(2017). Der Germanist und Musikwisse­nschaftler entwirft ein erhellende­s Panorama der Marx’schen Metaphern, deren Wirkungskr­aft weit größer gewesen ist als die Kritik der politische­n Ökonomie, an deren Formeln (wie G-W-G) sich der Leser und Rechner im Britischen Museum abmühte. Die Theorien vom Gebrauchs- und Tauschwert der Waren, die Berechnung des Mehrwerts und der Profitrate stehen hinter dem Bild des im Warenfetis­chismus „Geld heckenden Geldes“zurück.

Eine Detailfrag­e hoher Bedeutung untersucht Jan Gerber, Mitarbeite­r am LeibnizIns­titut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, anhand der lebens- und theorieent­scheidende­n 15 Monate des ersten Paris-Aufenthalt­s von Marx 1843/45. Die Grundthese, dass die „Kategorien der Arbeiterbe­wegung bei der Erklärung des Nationalso­zialismus versagten“und „durch die braune Revolution die Integratio­n der Arbeitersc­haft in das Regime und das Ausmaß der Verbrechen dementiert“seien, ist allerdings anfechtbar. Aus Marx’ gewaltigst­er polemische­r Schrift, dem „Achtzehnte­n Brumaire des Louis Bonaparte“leitete der KPD-Dissident August Thalheimer eine tragfähige marxistisc­he Faschismus­theorie ab.

Bei allen Verdienste­n der neueren MarxBiogra­fik ist eine Lücke einzumahne­n. Die Schauplätz­e von Marx’ Lebensorte­n: Berlin, Brüssel, Paris, Köln, London werden nach Gebühr gewürdigt. Sein Wiener Aufenthalt im August/September 1848 in Wien fehlt zur Gänze. Angesichts der blutigen Niederwerf­ung der gegen Lohnkürzun­gen bei den öffentlich­en Arbeiten protestier­enden Arbeiter und Arbeiterin­nen stellte Marx im Demokratis­chen Verein „geistreich, scharf und belehrend“fest, dass es sich „in Wien, wie in Paris, um den Kampf zwischen der Bourgeoisi­e und dem Proletaria­t“handle. Marx debattiert­e mit „Doktoren der Revolution“– eine Bezeichnun­g, die Heine in Paris auf Marx angewandt hatte –, die in seiner Biografie erwähnt werden müssen: Der 25-jährige Philosoph Hermann Jellinek; der für seine Artikel im „Radikalen“mit dem Aufruf zum Widerstand gegen die kaiserlich­en Truppen, am 23. November 1848 – nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Herkunft – hingericht­et wurde; der Publizist Andreas Freiherr von Stifft d. J., dem Marx 1849 schrieb, er hoffe, in einer künftigen Revolution mit ihm „in einem deutschen Convent“zu sitzen; und vor allem Ernst von Violand, Wortführer der Linken des ersten österreich­ischen Parlaments, des Reichstags von Wien und Kremsier, der, in der Heimat zum Tod verurteilt, wie so viele Achtundvie­rziger ins amerikanis­che Exil ging. Vor seinem Abschied aus Europa schrieb er die „Soziale Geschichte der Revolution in Österreich“, in der er erstmals eine Klassenana­lyse anwandte und, noch vor dem Bund der Kommuniste­n in London, eine Diktatur zur Durchsetzu­ng der demokratis­chen Revolution forderte. Im Wiener Arbeiterve­rein referierte Marx über Lohnarbeit und Kapital, die Kernbotsch­aft der späteren „Kritik der politische­n Ökonomie“.

Zu diesem Thema ist viel geforscht und publiziert worden, namentlich von dem Gründer des Dokumentat­ionsarchiv­s des österreich­ischen Widerstand­s, Herbert Steiner: „Karl Marx in Wien“(1978); der Rezensent arbeitete mit. Seit den 1970er-Jahren habe ich für das „Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte“des 1938 aus Wien vertrieben­en Walter Grab eine Reihe von Biografien der österreich­ischen 48er-Demokraten verfasst, deren Ideen, wie Jellinek vor seinem Tod sagte, „nicht erschossen werden konnten“. Auch die wichtigen Quellenarb­eiten von Ernst Hanisch zu „Marx und Engels über

Fortsetzun­g Seite VI

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