Auf wenigen Inseln durften die wenigen bleiben
Baltikum. Auf der Insel Prangli riss die Bindung zwischen Mensch und Meer anders als an Estlands übrigen Küsten nie ab.
Eine Verkehrsampel besitzt Prangli. Einst zeigte sie an, ob die neben ihr liegende Bar offen oder geschlossen war. Inzwischen ist die Bar für immer zu, die Ampel ist stets grün. Auch sonst ist das Leben auf der neun Kilometer vor der estnischen Nordküste gelegenen Insel planbar. Prangli besitzt drei Fischerdörfer, einen Leuchtturm, eine Bücherei, eine Holzkirche, ein Restaurant, ein Gemeindezentrum, eine Postfiliale, ein von der Dorfältesten, Terje, geführtes Geschäft für Holzarbeiten und eine Küste voller Findlinge. Übersichtlich ist die sechseinhalb Quadratkilometer große Insel außerdem. Siebzig Menschen wohnen hier ganzjährig; im Sommer sind es gut doppelt so viele. Die hellgrün gestrichene Inselschule besuchen derzeit fünf Kinder.
Zur Zeit der ersten Unabhängigkeit Estlands 1918 lebten zehn Prozent der Esten auf Inseln. Heute nur noch ein Prozent. Während Estlands Zwangsmitgliedschaft der Sowjetunion waren Inseln für die Esten nur Schatten am Horizont. Ausfahrten aufs Meer waren verboten; Privatboote wurden eingezogen. Nur Fischer durften Boote nutzen, die aber nachts weggesperrt wurden. Auf der Halbinsel Viimsi, die nordöstlich an Tallinn anschließt, bewachten Grenzsoldaten und Zäune die Strände und Küsten. Auch in der Hauptstadt selbst war – jenseits des Hafens – jeder Zugang zum Meer versperrt; so gründlich, dass es Stadtplanern bis heute nicht gelungen ist, Stadt und Küste wieder zu vereinen.
Estlands Inseln – mehr als 2000 laut Satellitenbildern – waren Grenzgebiet. Bis auf die beiden größten, Saaremaa und Hiiuma, wurden alle geräumt. Das war nötig, um die Flucht der glücklichen Sowjetbürger übers Meer nach Finnland zu verhindern. Prangli war die einzige Insel vor der Nordküste, deren Bewohner bleiben durften. Die 1953 gegründete Fischerkolchose S.M. Kirov galt als Vorzeigebetrieb und war wichtig für die Versorgung. Dreihundert Menschen lebten hier: Fischer und ihre Familien, unter ihnen fünfzig Schulkinder. Auch weil die Fischer gut verdienten (mehr als Lehrer), schien das Risiko kalkulierbar. Dabei war die Lage Pranglis im Finnischen Meerbusen aus Sicht der Besatzer äußerst heikel. Nur sechzig Kilometer liegen zwischen dem Hafen an der Nordküste der Insel und Finnland. Selbst der Dialekt der Insulaner ist dem Finnischen nahe.
Den vor der Küste gefangenen Dorsch verarbeiteten die Insulaner in einer Halle neben dem Hafen Kelnase, verpackten ihn in Kisten und transportierten ihn auf Schienenwagen zu den Schiffen. Heute sind in der Halle die Touristeninformation, eine kleine Bühne und alte Sofas untergebracht, auf denen Fährpassagiere aufs Schiff warten können. Leihräder, ein Akkordeon und Bücher in Regalen. Fotowände illustrieren das Leben zu Sowjetzeiten. Wandbehänge aus Fischernetzen und eine kleine Bar mit Schnäpsen bemänteln die Tatsache, dass die aus Balken und Brettern gezimmerte Halle ihre besten Tage hinter sich hat. „Seit zehn Jahren soll sie abgerissen und durch ein modernes Gebäude mit Duschen und Sauna ersetzt werden“, erklärt Annika Prangli. Aber mittlerweile ist sie den Leuten ans Herz gewachsen. Sie ist Teil des Charmes der Insel. Viele Insulaner wollen die alte Fischfabrik als Kulturzentrum erhalten. Dennoch bemüht die Gemeinde sich um EUGelder zum Um- oder Neubau
Annika Prangli ist in Tallinn aufgewachsen, wo sie für einen Reiseveranstalter arbeitete. Seit sie den Holzhauskonstrukteur Anders Prangli aus Südestland – wo es ein gleichnamiges Dorf gibt – geheiratet hat, trägt auch sie den Namen der Insel, die für Festland-Esten so lang tabu war. Zufall oder Schicksal, jedenfalls beschloss das Paar, sich die Insel genauer anzuschauen. „Wir stellten fest, dass hier sehr nette Menschen leben“, meint Annika. Die Pranglis kamen immer wieder, kauften schließlich ein Sommerhaus und gründeten eine Agentur, die Touren auf die Insel, zu Robbenkolonien vor den Malusi-Inseln und in den LahemaaNationalpark organisiert. Das war vor sieben Jahren. Immer mehr hat sich das Leben ihrer Familie seither nach Prangli verlagert. Annika schrieb ein Theaterstück über die Insel für das Sommertheater, das hier so sehr zur warmen Jahreszeit gehört wie überall sonst in Estland. Aufgeführt wurde es auf der Freilichtbühne, die einem auf die Seite gedrehten Boot ohne Kiel nachgebildet ist – so, wie es die Insulaner einst zur Robbenjagd nutzten.
Als der Inselschule Lehrer fehlten, sprang Annika ein und unterrichtete an zwei Tagen der Woche Englisch, Geschichte, Erdkunde und Biologie – zwei Jahre lang. In sturmgeschüttelten Winternächten war sie oft der einzige Mensch, der sich an der Südküste aufhielt. Unbehaglich war ihr nie. Auf Prangli gibt es weder Wölfe noch Wüstlinge, nur widriges Wetter. „Manchmal fiel so viel Schnee, dass ich morgens kaum aus der Haustür kam.“Dann musste sie auf Evakuierung durch den Schneepflug warten, weil ihr Auto bis über die Tür eingeschneit war. „Ich ließ es stehen, bis der Schnee schmolz.“Die Gefasstheit der Esten ist sprichwörtlich und unerschütter-