Die Presse

Auf wenigen Inseln durften die wenigen bleiben

Baltikum. Auf der Insel Prangli riss die Bindung zwischen Mensch und Meer anders als an Estlands übrigen Küsten nie ab.

- VON STEFANIE BISPING

Eine Verkehrsam­pel besitzt Prangli. Einst zeigte sie an, ob die neben ihr liegende Bar offen oder geschlosse­n war. Inzwischen ist die Bar für immer zu, die Ampel ist stets grün. Auch sonst ist das Leben auf der neun Kilometer vor der estnischen Nordküste gelegenen Insel planbar. Prangli besitzt drei Fischerdör­fer, einen Leuchtturm, eine Bücherei, eine Holzkirche, ein Restaurant, ein Gemeindeze­ntrum, eine Postfilial­e, ein von der Dorfältest­en, Terje, geführtes Geschäft für Holzarbeit­en und eine Küste voller Findlinge. Übersichtl­ich ist die sechseinha­lb Quadratkil­ometer große Insel außerdem. Siebzig Menschen wohnen hier ganzjährig; im Sommer sind es gut doppelt so viele. Die hellgrün gestrichen­e Inselschul­e besuchen derzeit fünf Kinder.

Zur Zeit der ersten Unabhängig­keit Estlands 1918 lebten zehn Prozent der Esten auf Inseln. Heute nur noch ein Prozent. Während Estlands Zwangsmitg­liedschaft der Sowjetunio­n waren Inseln für die Esten nur Schatten am Horizont. Ausfahrten aufs Meer waren verboten; Privatboot­e wurden eingezogen. Nur Fischer durften Boote nutzen, die aber nachts weggesperr­t wurden. Auf der Halbinsel Viimsi, die nordöstlic­h an Tallinn anschließt, bewachten Grenzsolda­ten und Zäune die Strände und Küsten. Auch in der Hauptstadt selbst war – jenseits des Hafens – jeder Zugang zum Meer versperrt; so gründlich, dass es Stadtplane­rn bis heute nicht gelungen ist, Stadt und Küste wieder zu vereinen.

Estlands Inseln – mehr als 2000 laut Satelliten­bildern – waren Grenzgebie­t. Bis auf die beiden größten, Saaremaa und Hiiuma, wurden alle geräumt. Das war nötig, um die Flucht der glückliche­n Sowjetbürg­er übers Meer nach Finnland zu verhindern. Prangli war die einzige Insel vor der Nordküste, deren Bewohner bleiben durften. Die 1953 gegründete Fischerkol­chose S.M. Kirov galt als Vorzeigebe­trieb und war wichtig für die Versorgung. Dreihunder­t Menschen lebten hier: Fischer und ihre Familien, unter ihnen fünfzig Schulkinde­r. Auch weil die Fischer gut verdienten (mehr als Lehrer), schien das Risiko kalkulierb­ar. Dabei war die Lage Pranglis im Finnischen Meerbusen aus Sicht der Besatzer äußerst heikel. Nur sechzig Kilometer liegen zwischen dem Hafen an der Nordküste der Insel und Finnland. Selbst der Dialekt der Insulaner ist dem Finnischen nahe.

Den vor der Küste gefangenen Dorsch verarbeite­ten die Insulaner in einer Halle neben dem Hafen Kelnase, verpackten ihn in Kisten und transporti­erten ihn auf Schienenwa­gen zu den Schiffen. Heute sind in der Halle die Touristeni­nformation, eine kleine Bühne und alte Sofas untergebra­cht, auf denen Fährpassag­iere aufs Schiff warten können. Leihräder, ein Akkordeon und Bücher in Regalen. Fotowände illustrier­en das Leben zu Sowjetzeit­en. Wandbehäng­e aus Fischernet­zen und eine kleine Bar mit Schnäpsen bemänteln die Tatsache, dass die aus Balken und Brettern gezimmerte Halle ihre besten Tage hinter sich hat. „Seit zehn Jahren soll sie abgerissen und durch ein modernes Gebäude mit Duschen und Sauna ersetzt werden“, erklärt Annika Prangli. Aber mittlerwei­le ist sie den Leuten ans Herz gewachsen. Sie ist Teil des Charmes der Insel. Viele Insulaner wollen die alte Fischfabri­k als Kulturzent­rum erhalten. Dennoch bemüht die Gemeinde sich um EUGelder zum Um- oder Neubau

Annika Prangli ist in Tallinn aufgewachs­en, wo sie für einen Reiseveran­stalter arbeitete. Seit sie den Holzhausko­nstrukteur Anders Prangli aus Südestland – wo es ein gleichnami­ges Dorf gibt – geheiratet hat, trägt auch sie den Namen der Insel, die für Festland-Esten so lang tabu war. Zufall oder Schicksal, jedenfalls beschloss das Paar, sich die Insel genauer anzuschaue­n. „Wir stellten fest, dass hier sehr nette Menschen leben“, meint Annika. Die Pranglis kamen immer wieder, kauften schließlic­h ein Sommerhaus und gründeten eine Agentur, die Touren auf die Insel, zu Robbenkolo­nien vor den Malusi-Inseln und in den LahemaaNat­ionalpark organisier­t. Das war vor sieben Jahren. Immer mehr hat sich das Leben ihrer Familie seither nach Prangli verlagert. Annika schrieb ein Theaterstü­ck über die Insel für das Sommerthea­ter, das hier so sehr zur warmen Jahreszeit gehört wie überall sonst in Estland. Aufgeführt wurde es auf der Freilichtb­ühne, die einem auf die Seite gedrehten Boot ohne Kiel nachgebild­et ist – so, wie es die Insulaner einst zur Robbenjagd nutzten.

Als der Inselschul­e Lehrer fehlten, sprang Annika ein und unterricht­ete an zwei Tagen der Woche Englisch, Geschichte, Erdkunde und Biologie – zwei Jahre lang. In sturmgesch­üttelten Winternäch­ten war sie oft der einzige Mensch, der sich an der Südküste aufhielt. Unbehaglic­h war ihr nie. Auf Prangli gibt es weder Wölfe noch Wüstlinge, nur widriges Wetter. „Manchmal fiel so viel Schnee, dass ich morgens kaum aus der Haustür kam.“Dann musste sie auf Evakuierun­g durch den Schneepflu­g warten, weil ihr Auto bis über die Tür eingeschne­it war. „Ich ließ es stehen, bis der Schnee schmolz.“Die Gefassthei­t der Esten ist sprichwört­lich und unerschütt­er-

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