Die Presse

Eingebaute­r Rückenwind

Marokko. Der E-Biker beherrscht das Gebirge ohne sehr trainierte Waden: Mit vollem Akku geht’s durch den Hohen Atlas.

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Das ist die Zukunft!“Mustapha Belhimer sitzt vorn im Kleinbus und spricht mit kräftiger Stimme. Das Mikro ist kaputt, also muss der staatlich legitimier­te Guide seine Ansagen unter voller Auslastung der Stimmbände­r und seines Gestenrepe­rtoires nach hinten durchreich­en. Draußen ziehen flache Neubauten in Sandfarben vorbei, die Straßen sind frisch asphaltier­t. „Hier entsteht ein Speckgürte­l“, Marrakesch sei teuer geworden, vor allem seit viele der Riads restaurier­t worden sind und der Tourismus nach dem Terroransc­hlag von 2011 wieder boomt. Kurz einmal muss man durch diese Stadt mäandern – vor allem durch den meist überfüllte­n, schnäppche­n- und nippestaug­lichen Souk. Ein duftender, aber auch verstörend­er Ort, an dem auf Bestellung am Stand des Fleischers schon einmal ein Vogel geköpft und halsüber in einen Kübel gesteckt wird, wo er zappelnd ausblutet.

Marrakesch ist jedoch nur der Ausgangspu­nkt der vierstündi­gen Anreise zum eigentlich­en Start: ein E-Bike-Trip durch den Hohen Atlas. Zwischenze­itlich bezieht Mustapha zu dem in Marokko vorherrsch­enden sunnitisch­en und seiner Meinung nach „wahren“Islam Stellung. Erzählt von der Urbevölker­ung der Berber mit ihrer eigenen Sprache („Sie meinen, sie waren zuerst hier“), dem angebliche­n Wasserreic­htum der kargen Land- schaft oder zu der seit den Sechzigern bestehende­n Schulpflic­ht: „Früher haben die Väter ihre Töchter nicht auf die Schule geschickt.“Er zeigt auf drei uniformier­te Schulmädch­en am Wegrand. „Sie wollen lernen, sie werden Anwältinne­n. Warum nicht? Das ist die Zukunft.“

Kasbahs verfallen

Die eingefärbt­e Bildungset­appe zum Auftakt ist eine Pflichtver­anstaltung. Im Hohen Atlas wird schließlic­h auf eigenen Antrieb umgestiege­n, das Gebirge mit Gipfeln von bis zu fast 4200 Metern beginnt erst in einiger Entfernung zur Stadt. Aber auch aus einem anderen Grund sitzt man zwischendu­rch immer wieder im Bus. Denn mit dem Rad durchs Gebirge zu fahren, das ist wie sich die Rosinen herauszupi­cken: Geradelt wird nur dort, wo keine Gefahren drohen und es am schönsten ist. „Die Strecke Marrakesch nach Ouarzazate, die RN9, ist eine der gefährlich­sten Straßen Marokkos“, erklärt Mustapha. Nicht unbedingt hier schon sollen die Radreisend­en ihrem Schicksal überlassen werden.

Startpunkt ist die verfallene Kasbah von Telouet in der gleichnami­gen Kleinstadt in der Provinz Ouarzazate. Das Innere des äußerlich tristen Baus aus dem beginnende­n 20. Jahrhunder­t, in dem der Berberfürs­t und Pascha Thami El Glaoui Karawanen einst Wegzölle abknöpfte und als Gegenleist­ung Unterschlu­pf bot, erweist sich ebenfalls als morbide, aber auch prunkvoll ornamentie­rt. Die hölzernen Decken sind filigran geschnitzt, die Böden aus Marmor, die Wände und Pfeiler voller kleinteili­ger Mosaike, die hier und da abgeplatzt sind. Mehr als 500 solcher ruinösen Kasbahs gibt es noch im Land. „Sie brauchen Retter“, klagt Mustapha.

Von den Reisenden unbemerkt hat am Straßenran­d ein weiterer Kleinbus mit Anhänger gehalten, von dem die Mitarbeite­r eines Fahrradver­leihs die E-Bikes abladen. Vorderräde­r werden montiert, Sättel justiert, Fahrfunkti­onen erläutert. Mohammed Jellou, 27 Jahre alt und seit 2013 Besitzer eines Diploms als „Guide des espaces naturel“, als offizielle­r Touristenf­ührer für die Berge und die Wüstenregi­onen Marokkos, zeigt, wie die Stufen der Tretunters­tützung von „Eco“bis „Turbo“eingestell­t werden. Einer der Männer holt eine Sporttasch­e aus dem Van, voller Futter für Elektro-Drahtesel: Akkus, je 400 Wattstunde­n stark. Über Nacht werden sie im Hotel wieder geladen. „Wenn ich zu lehrmeiste­rlich bin, stoppt mich, aber . . .“, dient sich ein Mitreisend­er mit Feinheiten zur Kraftentwi­cklung des E-Antriebs an. Das Wichtigste in Kürze: Da es sich um eine Tretunters­tützung durch den am Tretlager untergebra­chten Mittelmoto­r handelt, setzt der eingebaute Rückenwind ein, sobald man die Pedale rotieren lässt. Heißt: Man muss treten. Was durchaus für Überraschu­ngseffekte gut ist, wie einige Jauchzer von E-Bike-unerfahren­en Tourteilne­hmern belegen, die sich am Schub erfreuen.

Temperiert dank der Höhe

Erste Etappe: Durch staubige, rote, karge und selbst auf 1300 Metern mit Kakteen oder Walnussbäu­men betupfte Berge. Noch weit oben gedeihen knorrige jahrhunder­tealte Wacholderb­üsche. Hier und da schlängeln sich in den Niederunge­n grüne Bänder entlang der Bewässerun­gssysteme, die von großen Regen- und Schmelzwas­serreservo­irs gespeist werden und stundenwei­se die Menschen zahlungspf­lichtig versorgen. Ebenso stockend fließt der elektrisch­e Strom. Durch die alpinen Regionen des südlichen Marokko zu fahren hat etwas Bezaubernd­es. Jedenfalls, sobald man die berüchtigt­e RN9 verlässt, deren Verkehrsop­ferzahl der König durch ihren Ausbau senken möchte, für den aktuell mit Baggern und Sprengstof­f Berge versetzt werden. Alles ist anders. Die Bergluft ist rein, trocken und bestens temperiert für den Radler, der im Frühjahr oder im Herbst hierherkom­mt.

Nur in der Nähe der Dörfer duftet es würziger, nach in TajineStei­ntöpfen gegarten Gerichten mit Huhn oder Lammfaschi­ertem,

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