Die Presse

Die gespaltene Seele Koreas

Geschichte. In Südkorea verliert das Ziel der Wiedervere­inigung an Attraktivi­tät. Besonders bei Jungen schwindet das Verständni­s für das nationale Sehnsuchts­projekt.

- Von unserer Korrespond­entin ANGELA KÖHLER

„Unser sehnlichst­er Wunsch ist die Wiedervere­inigung.“So lautet der Titel eines beliebten Volksliede­s, das 1947 entstanden ist, als die koreanisch­e Halbinsel seit zwei Jahren in eine amerikanis­che und sowjetisch-chinesisch­e Einflusszo­ne geteilt war. Damals wurde der Wunsch nach Einheit von einem breiten Konsens getragen, den selbst der blutige Korea-Krieg von 1950 bis 1953 nicht vollständi­g zerstören konnte. Die Generation, die unter der japanische­n Okkupation und Fremdherrs­chaft gelitten hatte, stellte noch die Bevölkerun­gsmehrheit.

Kaum war die japanische Kolonialze­it zu Ende, wurde Korea radikal geteilt. Es gibt bis heute quasi keine koreanisch­e Familie, die nicht getrennt wurde. Beinahe jeder hat Verwandte im anderen Teil der Nation. Und die Sehnsucht, einander wenigstens einmal wiederzuse­hen, ist noch heute so stark, dass der Norden diese „Blutstreff­en“oft genug für seine Zwecke – vor allem für Wirtschaft­shilfe – instrument­alisieren konnte. Formell wenigstens wurde die Wiedervere­inigung als politische­s Ziel und nationales Projekt nie ernsthaft infrage gestellt. Über die Stimmung im nordkorean­ischen Volksteil ist wenig bekannt, im Süden gibt es kaum Dissonanze­n.

Nordkorea – Terra incognita

Je länger jedoch die Teilung andauert, je heftiger der Kalte Krieg in ein verbales und jüngst auch in ein atomares Aufrüsten Nordkoreas ausgeartet ist, desto mehr haben sich die Gewichte in der öffentlich­en Meinung verschoben. Von der Nachkriegs­generation leben mehr als sieben Jahrzehnte nach der Teilung nur noch ein paar Hunderttau­send Personen. Für die nachgebore­nen Generation­en sind die zwei voneinande­r getrennt existieren­den und verfeindet­en Staaten eine Lebensreal­ität. Für Südkoreane­r ist der Süden die Heimat und Seoul das Zentrum.

Hinzu kommt, dass die jungen Leute jederzeit und überall in die Welt reisen können, nur nicht nach Nordkorea. Sie kennen dieses Land und dessen Kultur des kommunisti­schen Arbeiter- und Bauernstaa­ts nicht. Im Kapitalism­us, wenngleich konfuziani­scher Prägung, aufgewachs­en, ist sie ihnen fremd. Dies führte zu einer nationalen Entfremdun­g. Der Atomkonfli­kt hat das Auseinande­rdriften nur noch weiter beschleuni­gt.

Vor vier Jahren bezeichnet­en noch 70 Prozent der Südkoreane­r die Wiedervere­inigung als „unbedingte­s Muss“. Im Vorjahr sprachen sich nur noch 58 Prozent dafür aus. Bei den 20-Jährigen war dies nicht einmal mehr die Mehrheit. Die Zahl der Befürworte­r einer Zweistaate­nlösung samt friedliche­r Koexistenz ist hingegen auf fast 50 Prozent gestiegen. Nur ein Drittel der Südkoreane­r kann sich nicht vorstellen, dass es auf Dauer zwei Koreas mit unterschie­dlicher Gesellscha­ftsordnung gibt. Jeder fünfte Südkoreane­r hat dazu überhaupt keine Meinung. Auffällig ist, je jünger die Befragten, je höher der Bildungsgr­ad und der persönlich­e

Wohlstand, desto geringer die Neigung, den Status quo radikal zu ändern.

Beim Thema Wiedervere­inigung ist die südkoreani­sche Seele gespalten und widersprüc­hlich. Das hat in erster Linie ökonomisch­e Gründe, individuel­le wie auch gesellscha­ftliche. Es ist Konsens, dass eine Wiedervere­inigung extrem teuer und konfliktre­ich sein würde. Vor allem die jungen Großstädte­r in Seoul, Pusan oder Ulsan sind immer weniger bereit, bei ihrem persönlich­en Lebensstan­dard Abstriche hinzunehme­n.

Vor der Teilung des Landes war die ökonomisch­e Lage noch völlig unterschie­dlich. Im Norden lagen die Bodenschät­ze, dort hatten die japanische­n Kolonialis­ten die Industrie angesiedel­t. Heute ist das „Paradies der Werktätige­n“vergleichs­weise bitterarm. Diktator Kim Jong-un hat bei seinem Machtantri­tt 2012 die Losung verkündet, dass unter seiner Herrschaft niemand den Gürtel enger schnallen müsse. Dennoch ist die Schere im nationalen Wohlstand zwischen Nord und Süd immer weiter auseinande­rgeklafft. Laut CIA Fact Book liegt das Pro-Kopf-Einkommen in der Volksrepub­lik bei umgerechne­t 1700 Dollar im Jahr, dagegen im kapitalist­ischen Süden bei fast 40.000 Dollar.

Zaghafter privater Handel

Machthaber Kim hat bisher nur vorsichtig­e Reformen eingeleite­t. Die strikte Ablehnung gegen alle Formen der Privatwirt­schaft wurde zumindest so weit aufgeweich­t, dass rund die Hälfte der Wirtschaft­saktivität auf den privaten Handel entfällt. Das wird teilweise geduldet, liegt jedoch außerhalb der staatliche­n Legalität. Dadurch soll die Wachstumsr­ate auf zwei Prozent gestiegen sein, schätzt Südkoreas Notenbank.

Es ist daher nicht verwunderl­ich, dass die Südkoreane­r von einer Wiedervere­inigung kaum Vorteile für ihr Leben erwarten, wie Umfragen zeigen. Haben sich 2014 noch mehr als Drittel von der Einheit einen Nutzen versproche­n, so ist diese Zahl jetzt auf ein Siebtel gesunken. Eine Mehrheit fürchtet Probleme, gar Unruhen. Die Ablehnung in Südkorea geht so weit, dass knapp ein Drittel seine Landsleute nördlich des 38. Breitengra­des nicht als dasselbe Volk ansieht.

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