Abdullah Güls nicht ganz freiwilliger Verzicht
Türkei. Präsident Erdo˘gans ehemaliger Mitstreiter will nicht gegen ihn antreten. Ein Kandidat der Mitte ist bei den Präsidentschaftswahlen im Juni nicht in Sicht. Die Nationalistin Ak¸sener bleibt weiterhin eine Gefahr für Erdo˘gan.
Istanbul. Auch nach dem Verzicht des ehemaligen Staatschefs Abdullah Gül auf eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei kann sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan˘ eines Sieges nicht sicher sein. Mit offener Kritik an seinem ehemaligen Partner Erdogan˘ zeigte Gül, wie weitverbreitet die Unzufriedenheit mit der Regierung inzwischen selbst in konservativ-islamischen Kreisen ist.
Erdogan˘ selbst hatte alles darangesetzt, den Ex-Präsidenten Gül von einer Kandidatur für die Opposition abzubringen. Anders als Erdogan˘ gilt Gül als überzeugter EU- und Reformanhänger. Als ein weit über die von ihm mitbegründete Regierungspartei AKP hinaus respektierter Politiker könnte Gül, so lautete die Hoffnung, die Opposition gegen den autokratischen Präsidenten einen. Doch Güls Vergangenheit als langjähriger politischer Partner Erdogans˘ verhinderte den Konsens. Insbesondere in der säkularistischen Oppositionspartei CHP hagelte es Kritik an Gül.
Mit dem Helikopter zu Gül
Wenn es eine „sehr breite Übereinstimmung“bei den Erdogan-˘Gegnern gegeben hätte, wäre er ins Rennen gegangen, sagte Gül. Doch die sei nicht zustande gekommen. Er verband seine Verzichtserklärung mit Kritik an der Erdogan-˘Regierung und warf ihr ein „Klima der Ausgrenzung, Angst und Sorgen“vor.
Güls mögliche Kandidatur hatte die AKP und den Präsidenten sehr nervös gemacht: Schließlich galt Gül als jemand, der viele islamisch-konservative Wähler anziehen und Erdogan˘ damit den Sieg in der ersten Rund der Präsidentenwahl am 24. Juni verhageln könnte. Erreicht kein Kandidat im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent, gibt es am 8. Juli eine Stichwahl. Erdogan˘ will mit der Wahl den Übergang zu einem Präsidialsystem vollenden, das ihm als Staatsoberhaupt weitreichende Machtbefugnisse einbringen würde.
Um Güls Bewerbung zu verhindern, soll Erdogan˘ am Mittwoch vergangener Woche seinen Generalstabschef, Hulusi Akar, per Helikopter zu Gül nach Istanbul geschickt haben. Drei Stunden lang habe Akar den Ex-Präsidenten beackert, sagt der Oppositionspolitiker Barıs Yarkadas.¸ CHPSprecher Engin Altay nannte den Einsatz des Militärchefs einen „Putsch“. Die Regierung setzte alles daran, Akars Besuch unter der Decke zu halten. Eine Online-Meldung des Senders Habertürk wurde gelöscht, der Chef der InternetAbteilung des Senders musste seinen Posten aufgeben.
Erdogan˘ selbst erklärte drohend, er wisse genau, wer mit Gül unter einer Decke gesteckt habe: „Ich kenne jeden einzelnen Namen.“
Doch Erdogan˘ ist mit Güls Absage nicht alle Probleme los. Viele bisherige AKP-Wähler könnten angesichts des Kurses der Regierung und wachsender wirtschaftlicher Probleme am 24. Juni von der Fahne gehen, sagt der Meinungsforscher Murat Gezici der „Presse“. Ihm zufolge hat Meral Aksener,¸ die Chefin der neuen NationalistenPartei Iyi Parti (Gute Partei), als Präsidentschaftskandidatin durchaus Chancen, in der zweiten Wahlrunde die Unzufriedenen hinter sich zu scharen und Erdogan˘ zu besiegen. Insbesondere bei den Jungwählern und in den Großstädten sinke die Unterstützung für den Präsidenten, sagte Gezici.
Nach Güls Rückzug ist kein Kandidat der Mitte in Sicht: In Ankara steht deshalb nach den Wahlen ein neuer Rechtsruck bevor – egal, wer gewinnt.