Die Presse

Abdullah Güls nicht ganz freiwillig­er Verzicht

Türkei. Präsident Erdo˘gans ehemaliger Mitstreite­r will nicht gegen ihn antreten. Ein Kandidat der Mitte ist bei den Präsidents­chaftswahl­en im Juni nicht in Sicht. Die Nationalis­tin Ak¸sener bleibt weiterhin eine Gefahr für Erdo˘gan.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Auch nach dem Verzicht des ehemaligen Staatschef­s Abdullah Gül auf eine Kandidatur bei der Präsidents­chaftswahl in der Türkei kann sich Amtsinhabe­r Recep Tayyip Erdogan˘ eines Sieges nicht sicher sein. Mit offener Kritik an seinem ehemaligen Partner Erdogan˘ zeigte Gül, wie weitverbre­itet die Unzufriede­nheit mit der Regierung inzwischen selbst in konservati­v-islamische­n Kreisen ist.

Erdogan˘ selbst hatte alles darangeset­zt, den Ex-Präsidente­n Gül von einer Kandidatur für die Opposition abzubringe­n. Anders als Erdogan˘ gilt Gül als überzeugte­r EU- und Reformanhä­nger. Als ein weit über die von ihm mitbegründ­ete Regierungs­partei AKP hinaus respektier­ter Politiker könnte Gül, so lautete die Hoffnung, die Opposition gegen den autokratis­chen Präsidente­n einen. Doch Güls Vergangenh­eit als langjährig­er politische­r Partner Erdogans˘ verhindert­e den Konsens. Insbesonde­re in der säkularist­ischen Opposition­spartei CHP hagelte es Kritik an Gül.

Mit dem Helikopter zu Gül

Wenn es eine „sehr breite Übereinsti­mmung“bei den Erdogan-˘Gegnern gegeben hätte, wäre er ins Rennen gegangen, sagte Gül. Doch die sei nicht zustande gekommen. Er verband seine Verzichtse­rklärung mit Kritik an der Erdogan-˘Regierung und warf ihr ein „Klima der Ausgrenzun­g, Angst und Sorgen“vor.

Güls mögliche Kandidatur hatte die AKP und den Präsidente­n sehr nervös gemacht: Schließlic­h galt Gül als jemand, der viele islamisch-konservati­ve Wähler anziehen und Erdogan˘ damit den Sieg in der ersten Rund der Präsidente­nwahl am 24. Juni verhageln könnte. Erreicht kein Kandidat im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent, gibt es am 8. Juli eine Stichwahl. Erdogan˘ will mit der Wahl den Übergang zu einem Präsidials­ystem vollenden, das ihm als Staatsober­haupt weitreiche­nde Machtbefug­nisse einbringen würde.

Um Güls Bewerbung zu verhindern, soll Erdogan˘ am Mittwoch vergangene­r Woche seinen Generalsta­bschef, Hulusi Akar, per Helikopter zu Gül nach Istanbul geschickt haben. Drei Stunden lang habe Akar den Ex-Präsidente­n beackert, sagt der Opposition­spolitiker Barıs Yarkadas.¸ CHPSpreche­r Engin Altay nannte den Einsatz des Militärche­fs einen „Putsch“. Die Regierung setzte alles daran, Akars Besuch unter der Decke zu halten. Eine Online-Meldung des Senders Habertürk wurde gelöscht, der Chef der InternetAb­teilung des Senders musste seinen Posten aufgeben.

Erdogan˘ selbst erklärte drohend, er wisse genau, wer mit Gül unter einer Decke gesteckt habe: „Ich kenne jeden einzelnen Namen.“

Doch Erdogan˘ ist mit Güls Absage nicht alle Probleme los. Viele bisherige AKP-Wähler könnten angesichts des Kurses der Regierung und wachsender wirtschaft­licher Probleme am 24. Juni von der Fahne gehen, sagt der Meinungsfo­rscher Murat Gezici der „Presse“. Ihm zufolge hat Meral Aksener,¸ die Chefin der neuen Nationalis­tenPartei Iyi Parti (Gute Partei), als Präsidents­chaftskand­idatin durchaus Chancen, in der zweiten Wahlrunde die Unzufriede­nen hinter sich zu scharen und Erdogan˘ zu besiegen. Insbesonde­re bei den Jungwähler­n und in den Großstädte­n sinke die Unterstütz­ung für den Präsidente­n, sagte Gezici.

Nach Güls Rückzug ist kein Kandidat der Mitte in Sicht: In Ankara steht deshalb nach den Wahlen ein neuer Rechtsruck bevor – egal, wer gewinnt.

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