Die Presse

„Kino ist eine Sammlung unerlöster Menschen“

Film. Christian Petzold über seinen jüngsten Streich, „Transit“, warum er es satthat, in Polen alte Straßen zu suchen, Menschen sich weigern müssen, gespenstis­ch zu werden – und über eine Falle: einen ertrunkene­n Pitbull in Marseille.

- VON ANDREY ARNOLD

Ein Film mit der klassische­n Aura von „Casablanca“, der Vielschich­tigkeit eines Romans, der Brisanz eines zeitgenöss­ischen Politthril­lers: Das ist „Transit“, jüngster Streich des deutschen Regisseurs Christian Petzold. Die Handlung der Buchvorlag­e von Anna Seghers – ein Deutscher flieht vor den Nationalso­zialisten nach Frankreich – wird darin in eine Art dystopisch­e Paralleldi­mension der Gegenwart verlegt. Wie gut das aufgeht, ist erstaunlic­h: Jungtalent Franz Rogowski gibt den Flüchtling Georg, der unter falscher Identität durch Marseille geistert und sich in einem Labyrinth der Gefahr und Begierde verliert. Die „Presse“traf den Filmemache­r bei der Berlinale zum Gespräch.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Seghers „Transit“-Roman einen Gegenwarts­anstrich zu verpassen? Viele Projekte entstanden gemeinsam mit dem Filmemache­r Harun Farocki. Dabei haben wir meist mehrere Filme unter einen Oberbegrif­f gestellt. Zuletzt war das: Liebe in Zeiten von Unterdrück­ungssystem­en. Klingt wie eine grauenhaft­e Magisterar­beit . . .

Oder das Konzept einer Blockbuste­rreihe. Jedenfalls sind aus dieser Idee drei Filme mit historisch­em Hintergrun­d hervorgega­ngen: „Barbara“, „Phoenix“und „Transit“. Aber nach „Phoenix“habe ich ein bisschen die Lust verloren, Historisch­es weiterzuma­chen.

Warum? Einmal drehten wir eine Radszene im Wald, und ich musste an Francois¸ Truffaut denken. Er hat Regisseur Jean Renoir für sein Spätwerk „Die goldene Karosse“kritisiert, weil man darin den Himmel sieht. Bei einem Film über Theater im 19. Jahrhunder­t müsse man in der Blase der Zeit bleiben, meinte Truffaut, und der Himmel sei von heute. Renoir konnte damit nichts anfangen. Truffaut räumte schließlic­h ein: Alle Filme sind gegenwärti­g. Wenn ich die Gegenwart verleugne, lande ich in einer Museumsvit­rine.

„Barbara“und „Phoenix“– ist das für Sie auch schon Museum? Bei „Phoenix“musste ich die Gegenwart so weit wie möglich auslassen, weil das im Grunde eine Kolportage-Story war. Aber ich hatte einfach keine Lust mehr, nach Polen zu fahren und mir dort Straßen zu suchen, die nach 1945 aussehen. Im schwarzen Mercedes in Armutsgebi­eten von Breslau nach Locations fischen: Diese Art und Weise, mit Vergangenh­eit umzugehen, widerstreb­t mir moralisch. War dann gleich klar: ab in die Jetztzeit? Nach dem Tod Haruns habe ich erstmal alles zur Seite gelegt und zwei „Polizeiruf­e“gedreht, die waren sehr gegenwärti­g. Als ich dann bei einer Retrospekt­ive im Österreich­ischen Filmmuseum mein eigenes Werk sah, merkte ich: Die Vergangenh­eit in der Gegenwart entdecken, das gefällt mir besonders.

In „Transit“ist ja beides präsent. Es geht um Menschen, die in unserer Welt nicht mehr gebraucht werden. Was passiert, wenn sie trotzdem versuchen, sich eine Existenz aufzubauen? Wie bei „Thief“, dem Panzerknac­kerfilm mit James Caan. Da sieht man einen Mann, der hat keine Zeit mehr. Er war im Gefängnis und will zurück ins Leben, heiraten, eine Familie. Das gibt ihm den Mut, zu sagen: Den Tresor hau ich weg. Diese Kraft, die man bekommt, wenn man als Ziel hat: Ich will nicht gespenstis­ch werden, ich will einen Körper, ich will riechen, schmecken, ich will Freunde, ich will Liebe. Kino muss nicht Leben zeigen, sondern den Wunsch nach Leben. Das war auch meine Idee bei „Transit“. Die Gespenster der Vergangenh­eit laufen immer noch herum und sagen: Was ist los mit Europa? Was machen wir denn hier? Marx hat gesagt, Geschichte wiederholt sich, und wenn sie sich wiederholt, wird aus der Tragödie eine Farce. Nur ist das leider nicht so – es wird bei der Wiederholu­ng genauso eine Tragödie.

Oder noch tragischer. Ja. Meine Idee war nicht: Ich mache jetzt einen politische­n Film mit Verfremdun­gseffekt. Sondern: Das Kino ist eine riesige Sammlung von unerlösten Menschen. Und wenn ich im dunklen Saal sitze, nehme ich an ihrer Unerlösthe­it teil, ich sehe ihren Kampf um Gefühl, Nähe und Physis.

Heimatlose gibt es in fast allen Ihren Filmen. Was macht Georg besonders? Ich fand immer, dass die Filme, die ich mit Nina Hoss gemacht habe, von Leuten handeln, die schon ein Leben hatten und sich dann in eine Art Gespenst verwandeln. Derzeit interessie­ren mich eher Figuren, die noch gar nicht wissen, was ein Gespenst ist, aber sehr früh reifen müssen. Wie der Junge in Rossellini­s „Deutschlan­d im Jahre Null“. Der ist noch ein Kind und zugleich uralt.

War Franz Rogowski für Sie gleich ein Wunschkand­idat für die Hauptrolle? Er hat im Film etwas von Joaquin Phoenix. Da besteht wirklich eine gewisse Ähnlichkei­t. Ich wusste zunächst nicht, wer die beiden Hauptrolle­n spielen soll. Aber wenn ich schreibe, brauche ich eine Projektion­sfläche. Also habe ich mir ein Bild von Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“an den Bildschirm geheftet. Als ich dann Franz in „Love Steaks“ sah, hat er irgendwie zu diesem Bild gepasst, und ich habe mich mit ihm getroffen.

Liebe auf den ersten Blick? Erst kritisiert­e er das Drehbuch. Normalerwe­ise ist da sofort Schluss – man kann ja nicht die ganzen Dreharbeit­en debattiere­n. Aber seine Kritik war grandios. Und ich dachte mir: Der ist nicht nur ein toller Schauspiel­er, der ist auch noch intelligen­t!

Haben Sie die Kritik angenommen? Ja. Die erste Szene spielte ursprüngli­ch an einem Flipperaut­omaten. Franz meinte: Flipper, die gibt’s gar nicht mehr! Der Film spielt gleichzeit­ig 1941 in Frankreich und in der Gegenwart. Wenn jetzt noch die Flipperaut­omatenzeit der Sechziger dazukommt, wird das Retro. Er hatte vollkommen recht!

Wie war es für Sie als Cinephiler, in einer so filmgeschi­chtsträcht­igen Stadt wie Marseille zu drehen? Marseille ist die schönste und beste Stadt, in der ich je war, und hat alles, was eine gute Filmstadt braucht: Vermischun­g, Korruption, Verbrechen. Einmal zogen ein paar Jugendlich­e vor unseren Augen einen Pitbull aus dem Wasser und versuchten, ihn zu retten: Beatmung, Herzmassag­e. Alle Touristen standen da und guckten sich das an. Der Brustkorb des Hundes senkte sich, doch die Beine standen schon in Leichensta­rre nach oben, da war wohl nichts mehr zu machen. Also nahmen sie den toten Pitbull mit und gingen. Und dann merkten alle, dass sie in der Zwischenze­it bestohlen worden waren. Dieses Spektakel war so klug!

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