„Kurdischer Obama“könnte die türkische Wahl entscheiden
Analyse. HDP-Politiker Demirta¸s tritt aus der Gefängniszelle heraus als Präsidentschaftskandidat am 24. Juni gegen Erdo˘gan an. Er kann Kurden und Linksliberale mobilisieren.
Istanbul. Er wird bei keiner Wahlkampfkundgebung auftreten, nicht über die Marktplätze tingeln, keine Hände schütteln und keine Fernsehinterviews geben. Und doch könnte Selahattin Demirtas,¸ ein inhaftierter 45-jähriger Kurdenpolitiker und Anwalt, den Schlüssel zum Ausgang der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni in seinen Händen halten. Demirtas¸ tritt aus der Gefängniszelle heraus als Präsidentschaftskandidat der legalen Kurdenpartei HDP an – und könnte einen Sieg von Staatschef Recep Tayyip Erdogan˘ verhindern, indem er kurdische und linksliberale Wähler motiviert.
Schon bei der letzten Präsidentenwahl vor vier Jahren verbuchte Demirtas,¸ damals als Chef der HDP, mit einem Ergebnis von etwa zehn Prozent einen Achtungserfolg. Der telegene und rhetorisch begabte Politiker, der in seiner Freizeit – und derzeit in seiner Zelle – Kurzgeschichten schreibt, malt und die türkische Laute Baglama˘ spielt, spricht nicht nur Kurden an, sondern auch linke und junge Wähler in den türkischen Großstädten. Das sind genau jene Gruppen, die sich immer mehr von Erdogan˘ und dessen Regierungspartei AKP abwenden. Nicht umsonst wird Demirtas¸ der „kurdische Obama“genannt: Wie der erste afroamerikanische US-Präsident genießt er den Ruf des redegewandten Underdogs, der die Leute mitreißen kann.
Seit November 2016 in U-Haft
Auch wenn viele Konservative unter den rund zehn Millionen kurdischen Wählern in der Türkei traditionell zur AKP tendieren, hat Demirtas¸ die Möglichkeit, Wählerstimmen zu sammeln, die für andere Kurdenpolitiker unerreichbar sind. Einen Politiker, der zeichnet, musiziert und schreibt: Das brauche die Türkei, sagte ein Istanbuler Cafebesucher´ kürzlich. Meinungsforschern zufolge könnte Demirtas¸ selbst in der Haft so viele Stimmen auf sich vereinigen, dass Erdogan˘ in der ersten Runde der Präsidentenwahl am 24. Juni unter 50 Prozent bleibt und sich zwei Wochen später einer Stichwahl stellen muss.
Erdogans˘ Regierung und die türkische Justiz betrachten die HDP als politischen Arm der verbotenen Terrororganisation PKK. Demirtas¸ und die ehemalige Kovorsitzende der HDP, Figen Yüksekdag,˘ sitzen deshalb seit November 2016 in Untersuchungshaft. Bei einer Verurteilung drohen beiden Politikern jeweils mehr als hundert Jahre Gefängnis. Demirtas¸ sitzt im nordwesttürkischen Edirne ein – weit weg von Ankara und noch weiter weg vom Kurdengebiet im Südosten der Türkei. Mit Tweets und Zeitungsartikeln mischt er trotzdem, so gut es geht, in der politischen Diskussion mit. In einem Brief an die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“rief Demirtas¸ jetzt zu einer gemeinsamen Haltung aller Erdogan-˘Gegner auf.
Aus Oppositionsallianz ausgeschlossen
Doch mit der Einigkeit der Opposition ist es so eine Sache. Aus einem neuen Bündnis aus vier Oppositionsparteien bleibt die HDP ausgeschlossen, weil Säkularisten und Nationalisten die Zusammenarbeit mit den Kurden scheuen. Die Abneigung ist beidseitig. Aus kurdischer Sicht bestehe kein Unterschied zwischen dem rechtsgerichteten Wahlblock von Erdogans˘ AKP und der Oppositionsallianz, kommentierte die prominente Menschenrechtlerin Eren Keskin.
Auch Demirtas’¸ eigene Position ist nicht unumstritten. So wird ihm vorgeworfen, sich vor seiner Inhaftierung nicht klar genug von den PKK-Terroristen distanziert zu haben. Wie andere Kurdenparteien vor ihr ringt die HDP mit ihrem Verhältnis zu den Rebellen – und macht sich aus Sicht der türkischen Staatsmacht damit verdächtig.
Nun stehen kurdische wie nicht kurdische Gegner Erdogans˘ vor einer wichtigen Entscheidung: Laut Umfragen könnte es bei einer Stichwahl für das Präsidentenamt auf die Stimmen der Kurden ankommen. Neben Demirtas¸ treten die Chefin der neuen rechtsgerichteten Guten Partei, Meral Aksener,¸ und der Vorsitzende der kleinen islamistischen SP, Temel Karamollaoglu,˘ bei der Präsidentenwahl gegen Erdogan˘ an. Als größte Oppositionspartei will die säkularistische CHP laut Medienberichten mit dem langjährigen Parlamentsabgeordneten Muharrem ˙Ince ins Rennen gehen.
Von seiner Empfehlung hängt viel ab
Bei einem Feld mit insgesamt fünf Bewerbern sinke Erdogans˘ Chance auf einen Wahlsieg in der ersten Runde, sagte der Meinungsforscher Murat Gezici der „Presse“in Istanbul. Wenn Gezici richtigliegt, wird in der Stichwahl am 8. Juli viel davon abhängen, was Demirtas¸ seinen Wählern empfiehlt. Selbst aus seiner Zelle in Edirne heraus hat der Kurdenpolitiker ein wichtiges Wort bei der Entscheidung über die Zukunft der Türkei mitzureden.
Bei einem Feld mit insgesamt fünf Bewerbern sinkt Erdo˘gans Chance auf einen Wahlsieg in der ersten Runde. Murat Gezici, Meinungsforscher