„Eine Abschiebung kostet 15.000 Franken“
Im Kino. Als er ein Kind war, nahm seine Familie ein Flüchtlingsmädchen auf, in seinem neuen Film „Eldorado“erinnert sich der Schweizer Regisseur Markus Imhoof an sie – und befasst sich zugleich mit den Migrationsthemen von heute.
Ein Schiff im Mittelmeer, ein Auffanglager in Apulien, ein Bunker in Bern – und ein italienisches Flüchtlingsmädchen, das 1945 einen Schweizer Buben verzauberte: In „Eldorado“schildert Markus Imhoof, wie Geflohene nach ihrer Ankunft Mechanismen ausgesetzt werden, die ein würdiges Leben erschweren – und wie das erst neue Flüchtlinge schafft. Die Gesellschaftsanalyse wird von persönlicher Gedächtnisforschung ergänzt, die daran erinnert, dass die Schweiz schon einmal mit Menschen auf der Flucht konfrontiert war.
Die Presse: Sie verweben in „Eldorado“Erinnerungen an Ihre Freundin Giovanna, die während des Zweiten Weltkriegs aus Italien floh, mit einer Reflexion der aktuellen Migrationskrise. Markus Imhoof: Wir haben Giovanna damals bei uns aufgenommen. Das wurde eine Art Kinderliebesgeschichte und hat mich sehr geprägt – ihr Tod nachher umso mehr. Diese Narbe auf der Seele hält das Thema für mich aktuell. Und war der Trigger dafür, dass ich mich nach 40 Jahren wieder damit beschäftige.
Wurden viele Flüchtlingskinder in Ihrem Umfeld aufgenommen? Es gab einige Schweizer, die mitge- macht haben. Die Kinderhilfe hat im spanischen Bürgerkrieg begonnen. Zunächst waren das linke Organisationen, die aber kaum Geld hatten und irgendwann politisch in Verruf gerieten. Die Sache wurde dann unter die Obhut des Roten Kreuzes gestellt. Es war ein Kontrast zum offiziellen, abweisenden Flüchtlingskonzept der Schweiz. Diese Menschen hatten das Gefühl, dass Glück auch eine Verantwortung ist. Ist diese Vorstellung heute weniger präsent? Es gibt einen Konflikt zwischen den Leuten, die am lautesten gegen Flüchtlinge schreien, und denen, die versuchen, etwas zu machen. Ich bin erschrocken über die Situation in Österreich und in der Schweiz. Beide wollen Inseln sein, die der Rest der Welt nichts angeht. Ich glaube, das ist ein Irrtum – und am Schluss ein Eigentor.
Sie wählen in Ihrem Film eine Makroperspektive, schildern erst die Meeresrettung, dann die Ausbeutungssysteme der Illegalität. Die Operation Mare Nostrum war 2014, als wir zu drehen begonnen haben, schon auf der Kippe – ein Jahr, bevor überhaupt von einer Flüchtlingskrise die Rede war. Uns war klar, dass wir einen europäischen Blick auf das Thema wählen würden. Wir wollten die Maschinerie darstellen, nicht Porträts von armen Leuten machen.
Konnten Sie bei Mare Nostrum ungehindert drehen? Es war nicht einfach, auf das Kriegsschiff zu gelangen. Wir mussten bei jedem einzelnen Schritt eine Bewilligung einholen. Aber die Grundhaltung war sehr positiv und offen. Ein Soldat spricht freilich nicht über sein Innenleben, weil er das gar nicht darf. Ich habe mit einem Offizier eine Kabine geteilt, aber unsere Gespräche beim Einschlafen sind leider nicht im Film. Intimität ist bei der Armee nicht vorgesehen.
Sie beschreiben ein „perfektes kriminelles System“: Die Neuankömmlinge in Italien werden gezwungen, für einen Hungerlohn Tomaten zu ernten, die dann nach Afrika exportiert werden. Dort kauft man sie mit dem Geld, das die Geflohenen aus Italien zurückschicken. Kann man da als Konsument aktiv werden? Man müsste einen TomatenmarkBoykott organisieren. Die 30.000 Illegalen in der italienischen Landwirtschaft sind für diese Branche recht wichtig. Wenn man da ein bisschen Angst machen würde . . . Aber alle wollen Pizza essen und Tomatensauce für ihre Spaghetti. Wo sind die Flüchtlinge in der Schweiz untergebracht? Zum Teil an der Baumgrenze. Man sagt es nicht, aber eigentlich dient das der Abschreckung. Es darf nicht schön sein, sonst kommen mehr. Dabei könnte man die Arbeitskräfte gut gebrauchen.
Inwiefern? Ein Beispiel aus dem Film ist Rahel aus Eritrea. Sie arbeitete in einem Altersheim und war dort sehr beliebt, hat aber kein Asyl bekommen, weil ihre Missbrauchsgeschichten auf der Flucht passiert sind, nicht im Herkunftsland. Zurückgeschickt werden kann sie nicht. Jetzt kriegt sie acht Franken am Tag, darf nicht arbeiten und kein Deutsch lernen. Sie ist wie ein Fahrzeug ohne Nummernschild. Dabei wäre das Altersheim froh, wenn sie helfen könnte.
Hat sich im Zuge der Dreharbeiten etwas an Ihrem Bild der Flüchtlingskrise geändert? Dass Flüchtlinge durch unsere ökonomischen Vorteilskniffe produziert werden, war die verblüffendste Erkenntnis für mich. Und dass es eine Lösung wäre, da mehr Verantwortungsbewusstsein zu zeigen. Eine Abschiebung kostet 15.000 Franken: Drei Polizisten, die einen auf eine Sackkarre binden, ein Arzt und ein Antifolterbeauftragter, sie alle müssen bezahlt werden. Vielleicht könnte man dieses Geld stattdessen in Afrika investieren, damit die Flüchtlinge gar nicht erst kommen.