Warum beschließt die EU keine Sanktionen gegen Deutschland?
Nicht nur Polen und Ungarn, auch Deutschland hat mehrfach gegen die sogenannten europäischen Werte verstoßen. Aber das kratzt halt niemanden.
Wenn es nach den immer wieder artikulierten Vorstellungen der EU-Kommission und vor allem der Berliner Regierung ginge, dann sollte künftig ein Verstoß von Mitgliedstaaten gegen bestimmte zentrale Werte der Union künftig so geahndet werden, dass es am meisten schmerzt: in letzter Konsequenz durch den Entzug von Geld aus den Brüsseler Töpfen. Ob und wie das im kommenden Finanzplan der EU umgesetzt wird, ist noch lang nicht ausverhandelt, diese Woche war wolkig vom „Schutz des Geldes der Steuerzahler vor Missbrauch“die Rede.
Erste Kandidaten für solche Sanktionen wären bekanntlich Polen und Ungarn, denen vorgeworfen wird, vom Pfad der Tugend abgewichen zu sein, was etwa die Unabhängigkeit der Justiz oder die Pressefreiheit anlangt. Nun gibt es in der Tat eine Reihe von Gründen, den Regierungen in Warschau und Budapest in dieser Hinsicht kritisch gegenüberzustehen. Trotzdem haftet der Berufung auf europäische Werte – egal ob explizit oder auch nur indirekt – als Basis allfälliger Sanktionen gegen Mitgliedstaaten ein etwas eigenartiger Geruch an: das Odeur einer höchst fragwürdigen Doppelmoral.
Jene Werte, die Brüssel nun zu verteidigen behauptet, sind im Artikel 2 der EG-Verträge festgeschrieben. Es sind dies „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit (. . .) Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Nun kann man ja durchaus die Frage stellen, ob Polens Umgang mit der Justiz gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstößt oder nicht. Genauso gut kann man aber eine andere Frage stellen, die in Brüssel freilich nie gestellt wurde und wird: Ob denn die Migrationspolitik Deutschlands seit 2015 eigentlich mit den „europäischen Werten“in Einklang steht oder nicht viel eher einen krassen Verstoß gegen diese Werte darstellt. Etwa gegen den Wert „Gleichheit von Frauen und Männern“, indem die Merkel-Regierung billigend geduldet hat, dass Millionen von Migranten eingelassen wurden, deren Herkunftskulturen für diesen europäischen Wert nur Verachtung übrighaben. Und das soll kein Verstoß gegen den EU-Wertekanon sein? Und warum soll es dagegen keine Sanktionen geben?
Ähnliches lässt sich auch im Zusammenhang mit dem Wert Toleranz feststellen. Denn dass Europa durch die Migrationspolitik Merkels zu einem toleranteren Ort geworden ist, wird niemand ernsthaft behaupten. Ganz im Gegenteil – sie ist ein evidenter Verstoß gegen einen zentralen europäischen Wert, den freilich niemand mit Sanktionen belegen wird.
Genauso wenig wie gegen die in diesem Zusammenhang gerade von Deutschland begangenen Verstöße gegen den Wert der Rechtsstaatlichkeit. Die Staatsgrenzen über einen langen Zeitraum einfach unkontrolliert offen zu halten und damit hunderttausendfache Rechtsbrüche ohne Not zu ignorieren, stellte nach Meinung angesehener deutscher Verfassungsrechtler einen klaren Rechtsbruch dar.
Selbst der Verfassungsdienst des deutschen Bundestages konnte in einem Gutachten „keine Rechtsgrundlage“dieser Politik erkennen. Aber auch in dieser Causa gilt: Dagegen wird es niemals Sanktionen geben, dieser Verstoß gegen „europäische Werte“bleibt wohl auf immer ungesühnt.
Wobei Deutschland nicht das einzige EU-Land ist, in dem „europäische Werte“Töchter der Nützlichkeit sind. Auch Frankreichs permanente Verstöße gegen den Maastricht-Vertrag (Schuldenobergrenze) ab 2004 zeugen nicht eben von Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit – genauso wenig wie die zahllosen und zugegebenen Regelverstöße im Zuge der Euro-Krise. Aber vielleicht kann man ja bei der nächsten Reform der EU-Verträge Scheinheiligkeit, Doppelmoral und moralische Elastizität in den Katalog der europäischen Werte aufnehmen.