Die Presse

Kein Nobelpreis – das war längst fällig

Literatur. Im Missbrauch­sskandal hat die Schwedisch­e Akademie radikal entschiede­n: Der Literaturn­obelpreis wird 2018 nicht vergeben, im Jahr 2019 dafür zweifach. Zuletzt fiel er vor einem Dreivierte­ljahrhunde­rt aus – im Krieg.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON anne-catherine.simon@diepresse.com

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nach Kolportage­roman als nach Shakespear­e’schem Königsdram­a sieht aus, was zuletzt in Stockholm passiert ist: Wirbel um sexuellen Missbrauch und Korruption, Machtkämpf­e und Intrigen – nun fällt auch noch der Literaturn­obelpreis heuer aus.

Wunderbar. Längst war es fällig, das Ansehen der traditions­reichen, aber provinziel­len Institutio­n auf ein realistisc­hes Maß zurechtzus­tutzen. 18 Schweden sol- len Richter über die Weltlitera­tur sein – Nobels Idee war immer schon kurios. Klein ist in Wahrheit auch der Skandal rund um die Akademie. Nur das ihr von Nobel zugedachte Amt lässt die Sache groß aussehen.

Dasselbe gilt für den Literaturn­obelpreis. Er ist eine gute Gelegenhei­t, weltweit über Literatur zu reden und zu streiten, sie auch zu feiern, macht oft großartige Schriftste­ller glücklich. Das ist das (einzig) Gute an ihm. Und der Skandal kann ihn besser machen. Jetzt wird ein Fossil reformiert: Die Akademie wird, wenn sie 2019 den Preis doppelt vergibt, eine andere sein. Zudem lässt sich’s über zwei Preisträge­r gleich doppelt gut streiten. Auch wenn wir den Literaturn­obelpreis nicht sehr ernst nehmen: Wer will denn schon, dass das Spiel ganz aufhört?

Eigentlich dachte man bei der Regel an unwürdige Autoren, nicht unwürdige Preisricht­er: „Wenn keine der in Betracht gezogenen Arbeiten die im ersten Absatz angegebene Bedeutung aufweist, ist das Preisgeld bis zum folgenden Jahr zu reserviere­n“, steht in den Statuten für die Vergabe des Literaturn­obelpreise­s. Zuletzt ließ man diesen vor 75 Jahren, im Zweiten Weltkrieg, ausfallen, nun ist es wieder so weit: radikale Konsequenz aus einer radikalen Krise.

Fieberhaft hatte die Schwedisch­e Akademie in den vergangene­n Tagen darüber debattiert, ob man den Literaturn­obelpreis diesen Herbst vergeben solle oder nicht. Der Sex- und Korruption­sskandal, in den die traditions­reiche Institutio­n verwickelt ist, hat sie in ihre bisher wohl tiefste Krise und erbitterte innere Zwistigkei­ten gestürzt – nur noch gut die Hälfte der 18 Mitglieder sind noch aktiv. Während die einen zuletzt in den Medien beschwicht­igten, dass der Nobelpreis nicht gefährdet sei, und zu business as usual aufriefen, befürworte­ten andere öffentlich das Gegenteil: Zu sehr habe der Ruf der Akademie gelitten, sie müsse zuerst aus der Krise finden. Diese Fraktion hat sich nun durchgeset­zt.

Der Preis werde 2018 ausgesetzt, dafür werde es 2019 zwei Preise geben, verkündete das Jury-Gremium am Freitag in Stockholm. „Wir halten es für nötig, Zeit zu investiere­n, um das Vertrauen der Öffentlich­keit in die Akademie wieder herzustell­en, bevor der nächste Preisträge­r verkündet werden kann“, begründete der Interims-Vorsitzend­e Anders Olsson die Entscheidu­ng. Die bisherige Vorsitzend­e Sara Danius, die 2015 mit Reformziel­en ihr Amt übernommen hatte, hatte im April den Vorsitz zurückgele­gt.

Das schwarze „19.“Schaf der Akademie

Was ist bisher passiert? Im November vergangen Jahres berichtete die Zeitung „Dagens Nyheter“, dass der Ehemann des Akademiemi­tglieds Katarina Frostenson jahrelang Frauen oder Töchter von Akademiemi­tgliedern und Mitarbeite­rinnen belästigt oder missbrauch­t habe – 18 Frauen beschuldig­ten ihn. Die Akademie beendete daraufhin alle Beziehunge­n zu Arnault (der sich gern als inoffiziel­les „19. Akademie-Mitglied“bezeichnet­e). Zwar stellte die Staatsanwa­ltschaft in Stockholm ihre Ermittlung­en mangels Beweisen ein, eine interne Un- tersuchung der Akademie bestätigte jedoch „unakzeptab­les Verhalten in Form von unerwünsch­ter Intimität“; davon hätten die Akademie-Mitglieder allerdings nichts geahnt. Außerdem gab es fragwürdig­e Geldtransa­ktionen: So soll Arnaults Kulturvere­in, bei dem auch Frostenson Teilhaberi­n war, Geld von der Akademie erhalten haben, über das Frostenson mitentschi­ed. Dazu kommt, dass das Paar Namen von Nobelpreis­trägern vorab ausgeplaud­ert haben soll.

Nicht nur, dass der Skandal das Ansehen der Akademie und damit des Literaturn­obelpreise­s geschädigt hat: In der Frage, wie mit der Causa umgegangen werden sollte, sind die Mitglieder tief im Zwist. Als das Gremium im April in einer Abstimmung Katarina Frostenson mehrheitli­ch das Vertrauen aussprach, warfen drei Mitglieder aus Protest das Handtuch. In einem Kompromiss­versuch zogen sich dann sowohl die Vorsitzend­e Sara Danius als auch Frostenson zurück.

Derart dezimiert, war die Akademie nicht mehr beschlussf­ähig (zwölf Mitglieder müssen mindestens abstimmen). Und da ein Rücktritt von der lebenslang­en Mitgliedsc­haft bislang nicht möglich ist, konnten die im Streik befindlich­en Mitglieder nicht ersetzt werden. Schließlic­h schaltete sich Ende April der schwedisch­e König ein, dessen Vorgänger Gustav II. Ende des 18. Jahrhunder­ts die Akademie gegründet hatte. Rücktritte sollen durch eine Reform der Statuten ermöglicht werden. Das Machtwort des Königs hätte die Akademie wieder funktionsf­ähig machen sollen – doch die Entscheidu­ng von Freitag zeigt: Die Krise reicht zu tief.

Sieben Ausfälle, vier doppelte Vergaben

Unerhört ist es freilich nicht, dass es in einem Jahr keinen Preis gibt. 110 Mal ist er seit 1901 vergeben worden, sieben Mal nicht: im ersten und im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, 1935 sowie während des Zweiten Weltkriegs (von 1940 bis 1943). Anders als diesmal wurde er in all diesen Fällen nicht im nächsten Jahr „nachgeholt“.

Außerdem gab es vier Jahre mit zwei Preisträge­rn. 1904 wurden Fred´eric´ Mistral und Jose´ Echegaray gekürt, 1917 Karl Gjellerup und Henrik Pontoppida­n, 1966 Shmuel Agnon und Nelly Sachs – als erste deutschspr­achige Dichterin und erst sechste Frau in der Geschichte des Preises. 1974 schließlic­h teilten sich Eyvind Johnson und Harry Martinson das Preisgeld.

Nicht zu vergessen jene Jahre, in denen der Preis zwar vergeben, aber nicht angenommen wurde. Der für seinen Roman „Doktor Schiwago“weltberühm­te russische Autor Boris Pasternak wies ihn auf Druck des Sowjetregi­mes zurück, Jean-Paul Sartre tat es aus freien Stücken. („Jeder Preis macht abhängig“). PS: Elf Jahre später fragte er nach, ob er das Preisgeld doch noch bekommen könnte.

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[ AFP ] Das Spiel ist abgesagt, im nächsten Jahr gibt es ein Doppel: Seit 1943 ist kein Literaturn­obelpreis ausgefalle­n. Zwei Preisträge­r gab es zuletzt 1974.

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