Die Presse

„Der Vollkaskos­taat kann nicht mehr“

Interview. Merkur-Versicheru­ng-Chef Gerald Kogler erklärt, warum er eine Pflegevers­icherungsp­flicht für unabdingba­r hält, der Vollkaskos­taat ein Irrglaube ist und immer mehr 20-Jährige eine private Krankenver­sicherung abschließe­n.

- VON GERHARD HOFER

Die Presse: In regelmäßig­en Abständen wird in Österreich der „Pflegenots­tand“ausgerufen. Gibt es ihn? Gerald Kogler: Ich würde sagen, wir sind auf dem Weg dorthin. Das Problem ist, dass ja keiner glaubt, dass er einmal ein Pflegefall sein wird.

Aber es machen sich doch immer mehr Menschen Gedanken darüber. Ab wann macht man sich Gedanken? Meist, wenn man älter ist. Aber Versicheru­ngen sind Ansparprod­ukte. Je früher einer anfängt, umso leichter kann er es sich leisten.

Wie schaffen wir es, früher anzufangen? Ich bin ja persönlich grundsätzl­ich gegen staatliche Eingriffe. Aber bei der Pflege muss der Staat meiner Meinung nach eingreifen. Und zwar in Form einer Versicheru­ngspflicht. Andernfall­s liegen die Leute irgendwann auf der Straße. Jeder weiß, dass wir in einer alternden Gesellscha­ft leben, jeder weiß, dass die Lebenserwa­rtung steigt, dennoch wird dieses Thema nicht angegriffe­n. Das ist leider typisch Österreich. In Deutschlan­d gibt es einen Pflichtbei­trag.

Wer soll die Pflichtver­sicherung einheben? Es ist egal, ob es der Staat macht oder Private, aber es muss endlich gemacht werden.

Wie wäre es mit Selbstvera­ntwortung statt staatliche­n Zwangs? Ja, natürlich kann man sagen, jeder ist selbst verantwort­lich. Aber wir wissen, was dabei herauskomm­t. Die einen sorgen vor – und die anderen werden, bevor sie auf der Straße landen, doch mit Steuergeld unterstütz­t.

Vielleicht beginnt die Selbstvera­ntwortung früher, etwa beim Lebenswand­el? Egal, wie gesund Sie leben, die letzten fünf Jahre werden statistisc­h gesehen eher bitter und vor allem teuer. Wenn bei uns von Vorsorgeun­tersuchung die Rede ist, dann meint man tatsächlic­h „Krankheite­n finden“. Wer heute mit 50 nichts hat, ist nur nicht ausreichen­d befundet. Wir haben keine Vorsorge-, sondern eine Reparaturm­edizin. Wir rauchen und trinken viel zu viel in Österreich, jeder glaubt, er sei unverwundb­ar. Schließlic­h haben wir ja einen Vollkaskos­taat.

Haben wir den wirklich? Der Vollkaskos­taat kann nicht mehr. Wenn heute jemand eine langwierig­e, schwere Krankheit hat und arbeitsunf­ähig ist, kommt irgendwann der Punkt, an dem er durch alle sozialen Netze fällt.

Der Vollkaskos­taat ist also nur ein Aberglaube, der sich hartnäckig in der Bevölkerun­g hält? Ich fürchte, der Vollkaskos­taat ist ein Aberglaube, der sich hartnäckig unter Politikern hält. In der Bevölkerun­g gibt es durchaus ein Umdenken, vor allem bei Jüngeren. Unsere Vorsorgepr­ogramme sind so gut gebucht, dass es längere Wartezeite­n gibt.

Da kommen dann also auch 30-Jährige ins Yoga-Seminar oder zum Lauftraini­ng? Auch 20-Jährige. Eine Krankenver­sicherung hat ja nichts mit Krankheit zu tun.

Das ist jetzt aber ein Werbegag. Ich wäre mit 20 nie auf die Idee gekommen, eine private Krankenver­sicherung abzuschlie­ßen. Als wir beide 20 waren, war eine Zusatzvers­icherung einem elitären Kreis vorbehalte­n. Heute haben 35 bis 40 Prozent der Leute eine private Krankenver­sicherung.

Und dennoch ist es bei der Pflege mit der Freiwillig­keit vorbei. Wie es eine Kfz-Haftpflich­tversicher­ung gibt, soll es also auch eine Pflege-Haftpflich­t geben. Ja, wenn alle einzahlen, dann wird die Pflege leistbar. Wenn jeder mit 20 anfängt, dann kostet es monatlich etwa zwölf Euro. Aber am allerbeste­n wäre es, wenn man von Geburt an einzahlt, dann kostete es wenige Euro pro Monat.

Pflegebeih­ilfe statt Kinderbeih­ilfe also. Man könnte auch statt des Dienstgebe­rbeitrags einen Pflegebeit­rag einheben. Ich nehme Ihnen aber nicht ab, dass es Ihnen egal ist, ob die Pflegevers­icherung vom Staat oder von Privatvers­icherungen eingehoben wird. Sie wollen damit doch auch ein Geschäft machen, oder? Natürlich kann man alles den Staat machen lassen. Allerdings: Was hat der Staat bisher mit Einnahmen gemacht, die er erst in vielen Jahrzehnte­n benötigt?

Budgetlöch­er gestopft? Das Geld versickert sehr leicht im Budget, weil es in der Regel nicht zweckgebun­den ist.

Geld kann auch in der Privatwirt­schaft versickern. Aber wir Versicheru­ngen sind streng reguliert. Jeder Einzelvert­rag wird geprüft, das kann man wirklich nicht vergleiche­n.

Aber zahlen wir nicht ohnehin schon genug in die Sozialvers­icherung ein, müsste sich das nicht ausgehen, wenn das Geld ordentlich verwaltet wird? Ja, natürlich kann man darüber diskutiere­n, ob nicht zu viel Geld für die Verwaltung ausgegeben wird. Aber diese Frage müssen andere beantworte­n.

Es ist ja immer von einer steigenden Lebenserwa­rtung die Rede. Ewig leben werden wir dennoch nicht. Irgendwann ist Schluss. Ja, eigentlich ist der menschlich­e Körper nicht konstruier­t, 90 Jahre alt zu werden. Aber genau das bedeutet, dass die Zahl der Pflegefäll­e zunehmen wird. Die Kinder leben nicht mehr nebenan, sondern sind weit weg – und sie müssen Geld verdienen, um sich das eigene Leben leisten zu können. So entsteht Pflegenots­tand. Es gibt ihn längst. Wer kann sich heute Pflegekost­en von mehr als 3000 Euro im Monat leisten?

 ?? [ Clemens Fabry ] ??
[ Clemens Fabry ]

Newspapers in German

Newspapers from Austria