„Preisentwicklung wird verzerrt“
Interview. Die wahre Teuerungsrate dürfte in Europa bei rund fünf Prozent liegen, sagt Ingo Mainert von Allianz Global Investors. Bei der Berechnung fehlten preistreibende Faktoren.
Die Presse: Herr Mainert, die Zinsen wurden bei der jüngsten EZB-Sitzung bei null Prozent belassen, was mit schwachen Wirtschaftsindikatoren begründet wurde. Verkraftet die Eurozone keine steigenden Zinsen? Ingo Mainert: Wir rechnen heuer und 2019 sogar mit einem Wirtschaftswachstum, das leicht über dem langjährigen Trend liegen dürfte. Eine leichte Reinflationierung ist absehbar, eine Zinsanhebung damit überfällig.
Das klingt, als ob die Inflationsgefahr in Europa unterschätzt wird. Das kommt darauf an, wie Sie Gefahr definieren. Allerdings nähern sich viele Arbeitsmärkte – etwa in den USA, aber auch in Teilen Europas – der Vollbeschäftigung. 2008 wurde bei der Arbeitslosenquote in der Eurozone ein historisches Tief von rund 7,5 Prozent erreicht. Davon sind wir heute nicht mehr allzu weit entfernt, so dass inzwischen Löhne stärker auf die ausgelasteten Arbeitsmärkte reagieren – und mit etwas Zeitverzögerung auch die Kerninflation.
Worauf müssen wir uns gefasst machen? Die Kerninflationsrate, somit ohne Energie und Nahrungsmittel, verharrt schon seit vielen Jahren bei etwa einem Prozent. In den kommenden zwölf bis 18 Monaten könnte sie in Richtung 1,5 Prozent klettern. Zudem steigt der Ölpreis seit geraumer Zeit an. Das wird sich in den kommenden Monaten auf die Gesamtinflation auswirken.
In den USA ist der Konjunkturzyklus schon viel weiter. Könnten Inflation und Zinsen dort vielleicht zügiger als erwartet ansteigen? Es wäre möglich. Allerdings plant die US-Notenbank bis Ende 2019 fünf weitere Zinsanhebungen. Zudem schrumpft sie ihre Bilanz in Höhe von mehr als vier Billionen Dollar ab Ende 2018 um gut 15 Prozent pro Jahr. Das sind durchaus adäquate Maßnahmen. Die Frage ist eher, ob Inflationsraten grundsätzlich richtig berechnet werden. Und da haben wir unsere Zweifel.
Weshalb die Skepsis? Es hat wenig Sinn, die Preise für Wertpapiere und Immobilien in der Inflationsberechnung nicht zu berücksichtigen. Finanz- und Gütermärkte sind ja nicht losgelöst voneinander, daher sind Finanzmarktpreise Teil einer notwendigen, holistischen Betrachtung des Themas Inflation.
Sie meinen, der Einfluss der Finanzmärkte auf eine Volkswirtschaft wird nicht wirklich wahrgenommen? Seit der Liberalisierung der Finanzmärkte in den 1980er-Jahren haben sie einen viel stärkeren Einfluss auf Konjunkturzyklen und Vermögenseffekte, somit auf die Inflationsrate. Darauf verweist etwa die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich mit Sitz in Basel. In den vergangenen Jahren floss viel Geld in die Finanzwirtschaft. Aufgrund der kräftig gestiegenen Kurse ist dort die inflatio- näre Entwicklung deutlich zu erkennen, das sollte in offiziellen Berechnungen berücksichtigt werden. Dann läge die Gesamtinflation allein in Europa eher bei rund fünf Prozent.
Oft wird auch auf die Auswirkungen technologischer Innovation auf das allgemeine Preisniveau verwiesen. Wie sehen Sie das? Im Zuge der hedonischen Preismessung, wie sie zum Beispiel in den USA und in Europa angewendet wird, wird versucht, Qualitätsänderungen zu berücksichtigen. Als der Farbfernseher die
ist Chief Investment Officer Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors. Weiters ist er Mitglied des European Executive Committee und des Global Policy Council. Seine berufliche Laufbahn startete der Betriebswirt 1988 in der Commerzbank. Von 2004 bis 2008 war er Leiter der Vermögensverwaltung. Zugleich verantwortete er seit 2006 das PortfolioManagement der Cominvest, die 2009 in der Allianz Global Investors KAG aufging. Schwarz-Weiß-Geräte ablöste, war die Preissteigerung, die mit einer Qualitätsverbesserung begründet wurde, noch durchaus nachvollziehbar. Inzwischen werden viele Fernseher oder Autos aber mit einer Menge technologischer Funktionen ausgestattet, die man nicht unbedingt braucht. Unter dem Strich zahlen Konsumenten mehr für das Gesamtpaket, aufgrund der Qualitätsverbesserung wird dies statistisch aber preisdämpfend erfasst. Das verzerrt die wahre Preisentwicklung.
Derzeit stehen auch die US-Handelszölle im internationalen Fokus. Könnte das Folgen für die Inflation haben? Grundsätzlich heizt Protektionismus die Preise für die betroffenen Güter an, während gleichzeitig das Wirtschaftswachstum leidet. Es kommt also meist zu einer stagflationären Entwicklung. Allerdings werden die Preise nur begrenzt steigen können. Schließlich darf man nicht vergessen, dass ein schwächeres Wachstum den Konsum und somit auch die Nachfrage negativ beeinflusst.