Die Presse

Höllische Exegesen: Marx gegen Ketten, Lenin als Herakles

Philosophi­cum Lech. Konrad Paul Liessmann und Michael Köhlmeier bauten originelle thematisch­e Brücken von der Faulheit zur Hölle.

- VON THOMAS KRAMAR 19. bis 23. 9., es gibt nur mehr wenige Karten. „Mut zur Faulheit: Die Arbeit und ihr Schicksal“, Verlag Zsolnay

„Die Proletarie­r haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“Zwei Tage vor dem 200. Geburtstag von Karl Marx konnte Konrad Paul Liessmann, der diesem schon 1992 ein schlaues Buch gewidmet hat („Man stirbt nur zweimal“), nicht anders, als Sätze aus dem Kommunisti­schen Manifest zu zitieren. Und zu ergänzen: „Marx hat eines vergessen: Es gibt nichts Schöneres als Ketten.“

Was meinte Liessmann damit? Die „unerträgli­che Bequemlich­keit der Hölle“, die Thema des Abends im Museum moderner Kunst war, der traditione­llerweise vom Thema des letztjähri­gen Philosophi­cums (diesfalls: „Mut zur Faulheit“) zum heurigen Thema („Die Hölle“) führen sollte.

In diesem Sinn schilderte zunächst Michael Köhlmeier die Versuchung­en des antiken Hades: „Es ist alles gedämpft und grau, Sie werden müde, allmählich begin- nen Sie zu vergessen . . .“Tatdurstig­en Helden wie Achill habe das natürlich nicht gefallen, auch nicht dem Herakles. Er riss seinen Kollegen Theseus – der, eigentlich wegen Persephone auf Expedition im Hades, schon dessen trägen Reizen verfallen war – vom Schemel.

Wobei das halbe Sitzfleisc­h hängen geblieben sein soll, wie Köhlmeier erzählte: „Darum haben die Griechen heute noch so schlanke Hintern.“Liessmann sprach in seiner Exegese vom Herakles-Prinzip – „Die Menschen müssen befreit werden, notfalls gegen ihren Willen“– und fand gleich ein modernes Pendant zu Herakles: in Lenin.

Sokrates jedenfalls wäre mit dem Hades zufrieden gewesen: Dort gäbe es endlich keine Begierde mehr, keine Körper, keine Sinnlichke­it, nur Geist. Liessmann erinnert das an heutige transhuman­e Utopien, an die Vorstellun­g, man könne das Bewusstsei­n eines Menschen digitalisi­eren und ins Inter- net, in die Daten-Cloud, auslagern. „Ähnelte so eine körperlose Cloud nicht dem Hades? Würde man nicht müde dort?“

Dann vielleicht doch lieber der Keller der antiken Unterwelt, der Tartaros! Dort wird zwar gelitten, das aber meist rastlos. Wir kennen nur wenige Insassen, den nie satten Tantalos etwa. Oder den Ixion, der, u. a. wegen sexueller Belästigun­g der Göttermutt­er Hera, an ein sich ewig drehendes Feuerrad gebunden ist. Dieses Rad des Ixion galt Schopenhau­er als Bild für den Willen, die ewige Quelle des Leidens. Oder Sisyphos, der sinnlos den Stein wälzt, aber dabei, wie wir von Albert Camus wissen, glücklich ist. Wie wir, wenn wir in Arbeit und Wirtschaft nie rasten. Wie die Bourgeoisi­e, vom „Bedürfnis nach einem stets ausgedehnt­eren Absatz für ihre Produkte über die ganze Erdkugel gejagt“, wie’s auch im Kommunisti­schen Manifest heißt.

Ist diese Jagd doch die ärgere Hölle? Oder die unerträgli­che Be- quemlichke­it des Hades? Oder tut die Freiheit am meisten weh? Liessmann ließ das offen – und verwies auf sein nächstes Philosophi­cum, wo auch von islamische­n und christlich­en Höllen die Rede sein wird. Und, noch ein infernalis­ches Entweder-oder, über Höllen des Rausches und der Sucht.

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