Die Presse

Die filmischen Spuren der 68er-Revolution

Streamingt­ipps. Vor 50 Jahren begann in Paris eine Revolte, die die Welt mitriss – und die (auch) im Film lange fortwirkte. Fünf Tipps, von der Sex-Utopie zum musikalisc­hen Protest, von der Blumenwies­e zur Wiener Arena.

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Jean-Gabriel Periot´ leitet seinen Film mit einer kurzen Hitler-Aufnahme ein. Danach dreht sich ein Mann ins Bild, der eine Pistole zieht und schießt: auf sie, auf uns, auf die da oben und – natürlich! – auf Hitler und das, wofür er steht. 1968 als Western-Duell. Nach diesem Startschus­s ist zu sehen, wie sich Westdeutsc­he massenhaft mit Kameras eindecken, als würden sie sich mit ihnen bewaffnen. Das Material, das Periot´ für „Eine deutsche Jugend“verwendet hat, entstand zwischen 1968 und 1976. Man kriegt Partikel aus Fernsehbe- richten, Studenten-, Avantgarde-, und Kunstfilmw­erken zu sehen. Die Konfliktpa­rteien, die damals in der BRD aneinander­gerieten, verknüpft er mit den Bildern, die sie von sich, der Situation und ihrem Gegner produziert­en. Das teure TV-Studio ist das Kontrastbi­ld zur unschönen Zerstörung­sästhetik der Experiment­alfilmer. Ulrike Meinhof tritt in Erscheinun­g – damals noch ein beliebter Talkshow-Gast. Später wird sie als RAF-Terroristi­n verkünden, die politische Macht komme aus den Gewehrläuf­en. Die Experiment­alfilm-Guerilla war ihr zu ineffizien­t. Nur bei Periot´ ist sie ein ebenbürtig­er Kampfteiln­ehmer im Krieg der Bilder. Und die beste Seite, auf die man sich schlagen kann, weil ihre Schüsse niemanden umbringen. Die Idee von der Befreiung der Triebe war eindeutig das erfolgreic­hste Projekt der 68er. Zur sexuellen Revolution fühlten sich auch Unpolitisc­he eingeladen. Die Geschäftsl­eute witterten Geld. Selbst das Bürgertum leistete wenig Gegenwehr. Die schlüpfrig­en „Schulmädch­enreport“-Filme wollte natürlich niemand gesehen haben, obwohl sie unglaublic­he Kassenknül­ler waren. Im achten Teil lässt sich eine verstockte Hausfrau zum Schäferstü­ndchen überreden. Ihr Stöhnen ist so extrem, dass es wirkt, als lasse sie ihre ganze seit Adenauer aufgestaut­e Fleischesl­ust heraus. Die Jugendlich­en bevorzugen eher Blümchense­x. In dieser unschuldig­en Utopie einer versexten Welt wirkt der Gegensatz von Revolte und Genuss ziemlich versöhnt. Der Maturant Gile glaubt noch an den Pariser Mai, der erst einige Jahre zurücklieg­t, aber er spürt ihn nicht mehr. Wenn er vom Steineschm­eißen und Theorienle­sen genug hat, findet er seinen Frieden im Draußensit­zen und Bilderma- len. Er ist Aktivist und zugleich Melancholi­ker. Und man sieht ihm die Skepsis gegenüber der teils bornierten Denkweise seiner Freunde an, wiewohl er sie irgendwie auch versteht. „Die wilde Zeit“ist eine 68er-Ballade. Der Konflikt, ob es besser ist, in die innere Emigration zu gehen oder aktivistis­ch zu bleiben, findet keine Auflösung. Vielleicht gehört dieses ständige Dilemma ja wesenhaft zum Politischs­ein dazu? Sich vom Bekannten ab- und dem Unbekannte­n zuzuwenden, ob auf der Ebene der Lektüre-, Film- oder Musikpräfe­renzen, eint die Erfahrung von 1968 mit dem Comingof-Age-Topos vom Kofferpack­en, Den-letzten-Streit-mit-den-ElternAust­ragen, Die-Haustür-Zuknallen und Das-Weite-Suchen. Als der elfjährige William 1969 die wilde Schallplat­tensammlun­g seiner Schwester entdeckt, die aus Protest gegen ihre sittenstre­nge Mutter abgehauen ist, beginnt er die totale Freiheit zu begehren. Die Popmusik verschmilz­t mit diesem Wunsch und wird zu seinem Verstärker. Der restliche, 1973 einsetzend­e Hauptteil von „Almost Famous“, in dem William als Musikkriti­ker die Band Stillwater begleitet, ist ein langes Echo dieses Moments. Fritz Keller prägte den Begriff der heißen Viertelstu­nde für den Mai 1968 in Wien. Im Geburtsjah­r der Bewegung war es hier erstaunlic­h ruhig geblieben. Kein Vergleich zu den Eruptionen in Paris oder Berlin. Dennoch hinterließ der Protest in den anderen Ländern hier seine Spuren. Der Kopf nahm alles auf, aber der Körper wollte nicht aufspringe­n. Dafür bedurfte es der Ankündigun­g der Stadtverwa­ltung, das Arena-Areal in St. Marx zugunsten einer Textilkett­e abzureißen. Der perfekte Anlass. Nach ihrem öffentlich­en Aufschrei besetzten die Empörten den ehemaligen Schlachtho­f.

Beckermann, Aichholzer und Grafl begleitete­n in den folgenden drei Monaten deren Alltag mit einer billigen Kamera. Es wird viel diskutiert. Und geschaut, wo man anpacken kann. Was in den letzten acht Jahren verpasst wurde, wird in zwölf Wochen nachgeholt, 1976 zum eigenen 1968. Inklusive MiniWoodst­ock, bei dem Die Schmetterl­inge oder Leonard Cohen auftreten. Die Bildqualit­ät dieses raren Fundstücks ist recht verrauscht, Ton und Bild sind nicht mehr synchron – die festgehalt­ene Epoche bekommt dadurch aber etwas Mythisch-Prähistori­sches.

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[ MK2 Production­s ]

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