Beißt der tote Hund heute noch?
Marx. Es gibt die Mär von der Praxisrelevanz der Theorien von Karl Marx. Davon kann man sich verabschieden. Ganz abzuschreiben ist er aber auch am 200. Geburtstag noch nicht.
Was aber ist nun mit Marx? Man hat uns ziemlich überfrachtet in den vergangenen Monaten, mit dicken Büchern, Thesen, Annäherungen und Distanzierungen. Gleich zwei Gastkommentatoren haben ihn allein in dieser Woche in der „Presse“zerzaust und endgültig als erledigt betrachtet. Und dann gibt es noch die Menge derjenigen, die trotzig darauf insistieren, dass Marx nicht tot sei, solange Kinder verhungern und solange es Menschen dreckig geht, in asiatischen Textilfabriken, auf den Müllhalden von Kairo.
Das Ganze beweist auf jeden Fall, dass Karl Marx aus der Geschichte der Welt nicht wegzudenken ist. Ab 1883 ist er biologisch zu den Toten zu rechnen, ohne dass er bedeutungslos wurde. Man kann sogar von einem beachtlichen Wiedergängertum sprechen. Von den „vier Leben des Karl Marx“ schrieb schon vor Längerem Wolfgang Wippermann. Zieht man Marx’ Stellenwert im Jahr seines Todes heran – kein besonders rezipiertes Lebenswerk mit Ausnahme des „Kapitals“und eines gescheiterten Projekts namens „Erste Internationale“– muss man eher von einer posthumen Erfolgsgeschichte sprechen, in deren Verlauf er dann auch immer wieder – und jedes Mal „definitiv“– totgesagt wurde.
Das Weiterwirken seiner Theorien unter dem Namen „Marxismus“war jedenfalls nicht vor Deformierungen gefeit. Der Ausdruck kam schon zu Marx’ Lebzeiten auf, er selbst konnte nicht viel damit anfangen, er behauptete, „kein Marxist“zu sein. Die „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“genannte Ideologie, die Studenten vom Ostteil Berlins bis nach Wladiwostok gelehrt wurde, hatte mit dem, was Marx vorschwebte, wenig zu tun. Dennoch wurden Führerkult, Speichelleckerei, Terror und Sklavenwirtschaft der Stalin-Zeit als marxistisch ausgegeben. Mit dem Ende dieses totalitären Systems schien Marx zum zweiten Mal gestorben, dieses Mal wurde er nicht von Krankheit und Alter dahingerafft, sondern von seinen Adepten Lenin, Stalin, Mao.
Kann man einen Denker davon freisprechen, was Massenmörder in seinem Namen getan haben? Kann man die Russische Revolution von 1917 und den Aufstieg kommunistischer Parteien danach überhaupt Marx’ Lehre zuschreiben? Gareth Stedman Jones hat auf die Mythologisierung von Marx als heldenhaftem Erfinder und Gesetzgeber des Kommunismus hingewiesen, die bereits im Jahr von Marx’ Tod begann. Die Erfindung dessen, was man dann später als „Marxismus“bezeichnete, geht zurück auf Friedrich Engels und die 1914 größte sozialistische Partei, die deutschen Sozialdemokraten. Marx’ Ruf wurde gewaltig aufgebläht, Marx als Erfinder der Wissenschaft vom Sozialismus glorifiziert, seine Misserfolge und Versäumnisse wurden bewusst verdrängt. Zum Teil steckte Überzeugung dahinter, zum Teil aber auch die Absicht, durch Marx’ Reputation die Macht der Partei zu steigern. Schriften, die nicht in den Mythos passten, wurden unter den Teppich gekehrt.
So taten sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts beträchtliche Unterschiede auf zwischen dem Denken von Marx und dessen Darstellung im politischen Diskurs. Das trifft auch für die 1960er- und 70er-Jahre zu, in denen sein Gedankengebäude plötzlich wieder zum Leben erwachte und vielen als Erleuchtung schien – bis zu seinem dritten Tod, mit dem Ende des Maoismus und dem Untergang des „real existierenden Sozialismus“1989. Der Kollaps erfolgte aufgrund des ökonomischen Versagens der sozialistischen Länder und bestätigte somit die Theorie von Marx, dass die Macht der ökonomischen Gesetze größer als die der politischen ist. Jetzt schien Marx endgültig vom Marxismus befreit. Der Ahnherr eines wahnwitzigen historischen Experiments schien auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.
Zur Jahrtausendwende hieß es dann „Das Gespenst geht wieder um“, die „Wiederauferstehung von Karl Marx“. Man entdeckte, dass das, was heute als Globalisierung gefeiert und gefürchtet wird, von Marx mit dem Begriff des „Weltmarkts“vorhergesagt und beschrieben worden ist. Der „tote Hund“(ein Ausdruck von Marx selbst) war wieder da, Terry Eagleton schrieb seinen Bestseller „Warum Marx recht hat“.
Marx hatte den österreichischen Kaiserstaat immer im Visier. Er kam zur Revolution 1848 nach Wien, schrieb anonym für die „Presse“. Die Entstehung einer organisierten Arbeiterschaft ließ ihn hoffen: Auch in Österreich werde die Revolution kommen.
2017 hieß es dann: Gierige Manager, schreiende Ungerechtigkeit, der Aufstand der Vergessenen – Karl Marx sah alles kommen. Man könne von ihm lernen, dem Marxismus zum Trotz. Doch die Mär von der Praxisrelevanz des Karl Marx heute ist mehr als gestrig, sie liefert das Bild eines Kämpfers und Moralisten, der die Ausbeutung des Menschen in kapitalistischen Verhältnissen geißelt und die Erlösung des Proletariats in der Revolution sieht. Das wurde von der Realität schon längst überholt. Kaum eine Partei sieht sein Werk heute als Kraftquelle, aus der sie sich speist. Die Kommunistische Partei Chinas beruft sich noch am ehesten auf Marx – und gerade sie wirtschaftet nach knallharten kapitalistischen Prinzipien.
Man kann die Geschichte von Marx auch anders erzählen, Konrad Paul Liessmann hat das in einem Essay schon vor einem Vierteljahrhundert brillant gemacht, kurz nachdem der real existierende Sozialismus kollabierte. „Marx nicht mehr zu lesen wäre dumm. Ihn so zu lesen wie bisher aber noch dümmer“, schreibt Liessmann, und er fordert auf, Marx als das zu lesen, als was er sich letztendlich auch immer verstanden hat: als Theoretiker, Philosophen und nicht zuletzt als Sprachkünstler, den man mit Genuss lesen und auch wegen der Schönheit und Eleganz seines Stils bewundern könne. Eine postmoderne Marx-Rezeption also: Auf die „Delikatesse“dieser Lektüre zu verzichten wäre nach Liessmann ein Fehler.
Historisierung statt Aktualisierung also. Dann, wenn man auf diese Art Marx von den gewaltigen politischen und moralischen Ansprüchen befreit, kann man auch seine Qualitäten wiederentdecken. Nicht als Heilsbringer und Agitator, sondern als Philosoph und Ökonom. Aber nicht als Prognostiker der Finanzkrise, der Kapitalismus ist ein System, das Prognosen nicht zulässt. Nicht als Rezeptlieferer, sondern als Analytiker, der unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus, studierte wie sonst keiner und uns die Möglichkeit gibt, ihn in seinen Grundstrukturen viel besser zu verstehen.
Yuval Noah Harari, einer der Welterklärer von 2018, vermutet, dass Marx den Kapitalismus vor dem Untergang bewahrt habe, indem er den Kapitalisten ihr eigenes System erklärte und zeigte, warum der Kapitalismus an seinen systemimmanenten Krisen nicht zugrunde gehen kann, sondern sich ganz im Gegenteil anpasst, mutiert und weiterentwickelt. Ob das nicht auch eine Folge dieses angeblichen Revolutionärs und Theoretikers des Kommunismus ist, der fast vierzig Jahre lang an seinem Stammplatz in der Bibliothek des British Museum saß und nichts anderes tat, als die Gesetze ebendieser Gesellschaftsund Wirtschaftsform zu studieren?