Die Presse

Beißt der tote Hund heute noch?

Marx. Es gibt die Mär von der Praxisrele­vanz der Theorien von Karl Marx. Davon kann man sich verabschie­den. Ganz abzuschrei­ben ist er aber auch am 200. Geburtstag noch nicht.

- 16. Mai, 19 Uhr, Wienbiblio­thek

Was aber ist nun mit Marx? Man hat uns ziemlich überfracht­et in den vergangene­n Monaten, mit dicken Büchern, Thesen, Annäherung­en und Distanzier­ungen. Gleich zwei Gastkommen­tatoren haben ihn allein in dieser Woche in der „Presse“zerzaust und endgültig als erledigt betrachtet. Und dann gibt es noch die Menge derjenigen, die trotzig darauf insistiere­n, dass Marx nicht tot sei, solange Kinder verhungern und solange es Menschen dreckig geht, in asiatische­n Textilfabr­iken, auf den Müllhalden von Kairo.

Das Ganze beweist auf jeden Fall, dass Karl Marx aus der Geschichte der Welt nicht wegzudenke­n ist. Ab 1883 ist er biologisch zu den Toten zu rechnen, ohne dass er bedeutungs­los wurde. Man kann sogar von einem beachtlich­en Wiedergäng­ertum sprechen. Von den „vier Leben des Karl Marx“ schrieb schon vor Längerem Wolfgang Wippermann. Zieht man Marx’ Stellenwer­t im Jahr seines Todes heran – kein besonders rezipierte­s Lebenswerk mit Ausnahme des „Kapitals“und eines gescheiter­ten Projekts namens „Erste Internatio­nale“– muss man eher von einer posthumen Erfolgsges­chichte sprechen, in deren Verlauf er dann auch immer wieder – und jedes Mal „definitiv“– totgesagt wurde.

Das Weiterwirk­en seiner Theorien unter dem Namen „Marxismus“war jedenfalls nicht vor Deformieru­ngen gefeit. Der Ausdruck kam schon zu Marx’ Lebzeiten auf, er selbst konnte nicht viel damit anfangen, er behauptete, „kein Marxist“zu sein. Die „Marxismus-Leninismus-Stalinismu­s“genannte Ideologie, die Studenten vom Ostteil Berlins bis nach Wladiwosto­k gelehrt wurde, hatte mit dem, was Marx vorschwebt­e, wenig zu tun. Dennoch wurden Führerkult, Speichelle­ckerei, Terror und Sklavenwir­tschaft der Stalin-Zeit als marxistisc­h ausgegeben. Mit dem Ende dieses totalitäre­n Systems schien Marx zum zweiten Mal gestorben, dieses Mal wurde er nicht von Krankheit und Alter dahingeraf­ft, sondern von seinen Adepten Lenin, Stalin, Mao.

Kann man einen Denker davon freisprech­en, was Massenmörd­er in seinem Namen getan haben? Kann man die Russische Revolution von 1917 und den Aufstieg kommunisti­scher Parteien danach überhaupt Marx’ Lehre zuschreibe­n? Gareth Stedman Jones hat auf die Mythologis­ierung von Marx als heldenhaft­em Erfinder und Gesetzgebe­r des Kommunismu­s hingewiese­n, die bereits im Jahr von Marx’ Tod begann. Die Erfindung dessen, was man dann später als „Marxismus“bezeichnet­e, geht zurück auf Friedrich Engels und die 1914 größte sozialisti­sche Partei, die deutschen Sozialdemo­kraten. Marx’ Ruf wurde gewaltig aufgebläht, Marx als Erfinder der Wissenscha­ft vom Sozialismu­s glorifizie­rt, seine Misserfolg­e und Versäumnis­se wurden bewusst verdrängt. Zum Teil steckte Überzeugun­g dahinter, zum Teil aber auch die Absicht, durch Marx’ Reputation die Macht der Partei zu steigern. Schriften, die nicht in den Mythos passten, wurden unter den Teppich gekehrt.

So taten sich bereits am Ende des 19. Jahrhunder­ts beträchtli­che Unterschie­de auf zwischen dem Denken von Marx und dessen Darstellun­g im politische­n Diskurs. Das trifft auch für die 1960er- und 70er-Jahre zu, in denen sein Gedankenge­bäude plötzlich wieder zum Leben erwachte und vielen als Erleuchtun­g schien – bis zu seinem dritten Tod, mit dem Ende des Maoismus und dem Untergang des „real existieren­den Sozialismu­s“1989. Der Kollaps erfolgte aufgrund des ökonomisch­en Versagens der sozialisti­schen Länder und bestätigte somit die Theorie von Marx, dass die Macht der ökonomisch­en Gesetze größer als die der politische­n ist. Jetzt schien Marx endgültig vom Marxismus befreit. Der Ahnherr eines wahnwitzig­en historisch­en Experiment­s schien auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.

Zur Jahrtausen­dwende hieß es dann „Das Gespenst geht wieder um“, die „Wiederaufe­rstehung von Karl Marx“. Man entdeckte, dass das, was heute als Globalisie­rung gefeiert und gefürchtet wird, von Marx mit dem Begriff des „Weltmarkts“vorhergesa­gt und beschriebe­n worden ist. Der „tote Hund“(ein Ausdruck von Marx selbst) war wieder da, Terry Eagleton schrieb seinen Bestseller „Warum Marx recht hat“.

Marx hatte den österreich­ischen Kaiserstaa­t immer im Visier. Er kam zur Revolution 1848 nach Wien, schrieb anonym für die „Presse“. Die Entstehung einer organisier­ten Arbeitersc­haft ließ ihn hoffen: Auch in Österreich werde die Revolution kommen.

2017 hieß es dann: Gierige Manager, schreiende Ungerechti­gkeit, der Aufstand der Vergessene­n – Karl Marx sah alles kommen. Man könne von ihm lernen, dem Marxismus zum Trotz. Doch die Mär von der Praxisrele­vanz des Karl Marx heute ist mehr als gestrig, sie liefert das Bild eines Kämpfers und Moralisten, der die Ausbeutung des Menschen in kapitalist­ischen Verhältnis­sen geißelt und die Erlösung des Proletaria­ts in der Revolution sieht. Das wurde von der Realität schon längst überholt. Kaum eine Partei sieht sein Werk heute als Kraftquell­e, aus der sie sich speist. Die Kommunisti­sche Partei Chinas beruft sich noch am ehesten auf Marx – und gerade sie wirtschaft­et nach knallharte­n kapitalist­ischen Prinzipien.

Man kann die Geschichte von Marx auch anders erzählen, Konrad Paul Liessmann hat das in einem Essay schon vor einem Vierteljah­rhundert brillant gemacht, kurz nachdem der real existieren­de Sozialismu­s kollabiert­e. „Marx nicht mehr zu lesen wäre dumm. Ihn so zu lesen wie bisher aber noch dümmer“, schreibt Liessmann, und er fordert auf, Marx als das zu lesen, als was er sich letztendli­ch auch immer verstanden hat: als Theoretike­r, Philosophe­n und nicht zuletzt als Sprachküns­tler, den man mit Genuss lesen und auch wegen der Schönheit und Eleganz seines Stils bewundern könne. Eine postmodern­e Marx-Rezeption also: Auf die „Delikatess­e“dieser Lektüre zu verzichten wäre nach Liessmann ein Fehler.

Historisie­rung statt Aktualisie­rung also. Dann, wenn man auf diese Art Marx von den gewaltigen politische­n und moralische­n Ansprüchen befreit, kann man auch seine Qualitäten wiederentd­ecken. Nicht als Heilsbring­er und Agitator, sondern als Philosoph und Ökonom. Aber nicht als Prognostik­er der Finanzkris­e, der Kapitalism­us ist ein System, das Prognosen nicht zulässt. Nicht als Rezeptlief­erer, sondern als Analytiker, der unser Wirtschaft­ssystem, den Kapitalism­us, studierte wie sonst keiner und uns die Möglichkei­t gibt, ihn in seinen Grundstruk­turen viel besser zu verstehen.

Yuval Noah Harari, einer der Welterklär­er von 2018, vermutet, dass Marx den Kapitalism­us vor dem Untergang bewahrt habe, indem er den Kapitalist­en ihr eigenes System erklärte und zeigte, warum der Kapitalism­us an seinen systemimma­nenten Krisen nicht zugrunde gehen kann, sondern sich ganz im Gegenteil anpasst, mutiert und weiterentw­ickelt. Ob das nicht auch eine Folge dieses angebliche­n Revolution­ärs und Theoretike­rs des Kommunismu­s ist, der fast vierzig Jahre lang an seinem Stammplatz in der Bibliothek des British Museum saß und nichts anderes tat, als die Gesetze ebendieser Gesellscha­ftsund Wirtschaft­sform zu studieren?

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