Die Presse

Die Lektion des Ignaz Semmelweis

Auch Forscher lassen sich von Werten leiten, sagt Politikwis­senschaftl­erin Sie zeigt das am historisch­en Streit um das Händewasch­en – und am March for Science 2017.

- VON ALICE GRANCY Alle Beiträge unter:

Der Gynäkologe Ignaz Semmelweis, später als „Retter der Mütter“gefeiert, wurde im Wien des 19. Jahrhunder­ts zunächst von weiten Teilen der Ärzteschaf­t verachtet. „Sie fürchteten, als Schuldige am Tod unzähliger Wöchnerinn­en dazustehen“, erklärt Politikwis­senschaftl­erin Anna Durnova.´ Denn erst durch Semmelweis’ Erkenntnis­se wurde die Bedeutung der Desinfekti­on der Hände bekannt.

Doch die damalige Debatte bringt noch andere Lehren: Sie zeigt einerseits, welche Gräben Forschungs­ergebnisse aufreißen können. „Wir wollen bahnbreche­nde Entwicklun­gen und fürchten uns zugleich vor den damit verbundene­n Konflikten“, schildert Durnova.´ „Wissenscha­ft ist subversiv und wird es immer sein. Sie wird immer bestehende Ordnung herausford­ern, darüber muss man sich im Klaren sein.“Anderersei­ts veranschau­liche der Fall Semmelweis aber auch, wie sehr sich Forscher von Emotionen leiten lassen. Es gelte, sich von der Illusion zu verabschie­den, dass Wissenscha­ftler rational und wertfrei agieren, sagt Durnova.´ Diese müssten ihre Bewertunge­n aber auch reflektier­en.

Für ihr vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­s, mit Ende April abgeschlos­senes Projekt studierte sie gynäkologi­sche Lehrbücher des 19. Jahrhunder­ts und analysiert­e, wie Semmelweis in Schriftstü­cken als irrational­er Wissenscha­ftler dargestell­t wurde. Überdies las sie Semmelweis’ Korrespond­enzen. Dieser ging mit der Wiener Ärzteschaf­t nicht gerade zimperlich um. Einem Kollegen warf er etwa vor, in der Medizin zu wüten wie Kaiser Nero im alten Rom. Durnova´ untersucht­e, wie wissenscha­ftliche Erkenntnis­se öffentlich diskutiert wurden. „Ich bin keine Historiker­in. Mich interessie­rte vor allem, wie die Diskurse für und gegen die Händedesin­fektion als Maßnahme gegen das Kindbettfi­eber stattfande­n und wie Emotionen mitspielte­n, was als wahr oder unwahr dargestell­t wurde.“Die wichtigste­n Erkenntnis­se veröffentl­ichte die geborene Tschechin bereits 2015 als Buch.

Und auch in der zweiten Phase ihrer Forschungs­arbeit wollte sie sich mit der Diskussion um die Händehygie­ne, wie sie aktu- ell in Krankenhäu­sern geführt wird, befassen. Doch dann ging sie zu Jahresbegi­nn 2017 für einen viermonati­gen Auslandsau­fenthalt an die Yale University in die USA. „Dort war nach der Wahl Donald Trumps die Debatte um das postfaktis­che Zeitalter gerade voll ausgebroch­en“, erzählt sie. Die Wissenscha­ftler bereiteten den March for Science vor. Da habe sie verstanden, dass der Fall Semmelweis auch als Lektion für das heutige Wissenscha­ftsverstän­dnis wirken könne. Denn auch jetzt würden wissenscha­ftliche Erkenntnis­se Machtverhä­ltnisse umkehren: etwa in der Debatte um den vom Menschen verursacht­en Klimawande­l, der die Industrie zur Täterin gemacht habe. Man gehe zwar stets tendenziel­l davon aus, dass sich Fakten und Emotionen trennen lassen. Das sei aber weder einst noch heute einfach: „Semmelweis hatte die Fakten auf seiner Seite, aber Emotionen verhindert­en zunächst die Einführung neuer Hygienevor­schriften.“Es gelte daher zu verstehen, wie Auffassung­en entstehen – und wie unterschie­dliche Vorstellun­gen von Wahrheit sie färben.

Durnova´ schwenkte um, wählte den March for Science als Fallbeispi­el. Am 22. April 2017 nahm sie selbst daran teil: allerdings nicht beim Hauptmarsc­h in Washington, sondern in New York. „Ich wollte mit den Leuten reden, die Transparen­te fotografie­ren und dachte, das gelingt dort besser. Zu Washington fand man ohnehin Videos und reichlich Material im Internet.“Was sie beobachtet­e, war letztlich ein Vermittlun­gsproblem: „Die Forscher wollen von einer Öffentlich­keit angenommen werden, von der sie sich aber abheben.“Auf manchen Postern standen etwa Sprüche, die nur von Wissenscha­ftlern zu verstehen waren.

Wo findet die 37-Jährige ihren Ausgleich zur Wissenscha­ftswelt? Sie macht Yoga – und singt: seit Kurzem in einem Chor und abends mit ihrer Tochter und ihrem Sohn. Für ihre Kinder hat sie die Forschung auch zweimal unterbroch­en. Das Karriereen­twicklungs­programm für Wissenscha­ftlerinnen des FWF sei die einzige Förderschi­ene, die das problemlos ermögliche, sagt sie.

(37) wurde in Brünn im heutigen Tschechien geboren. Sie studierte in Wien Politikwis­senschafte­n. Von 2012 bis Ende April 2018 forschte sie in einer vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­n Hertha-Firnberg-Stelle zum Thema „Wahrheit verhandeln – Semmelweis, Diskurs über Handhygien­e und Politik der Emotionen“. Seit 2016 arbeitet sie am Institut für Höhere Studien (IHS) in einer interdiszi­plinären Arbeitsgru­ppe.

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