Der mächtige Traum
Theodor Herzl nannte sich selbst einmal einen „Sprechdenker“. Er benötige die Konversation, um auf neue Gedanken zu kommen, im Rahmen von Rede und Widerrede entwickelten sich die Ideen und Entschlüsse. Man stößt, verfolgt man Herzls Entwicklung, immer wieder auf diese entscheidenden Gesprächsmomente, in Paris und in Wien, sie sind in seinem Tagebuch dokumentiert. Und ist nicht auch das Tagebuch selbst als eine Form des inneren Monologs ein Dokument dieses Sprechdenkens? Doch dürfen wir allen schriftlichen Äußerungen Herzls überhaupt trauen? Gibt es hier nicht Konstruktionen post festum?
Die Wahrheit deckt sich manchmal nicht mit seiner Darstellung. Sein Lebenstraum war schließlich schon in seiner Jugend gewesen, ein Schriftsteller zu sein, ein Dramatiker, dessen Stücke am Burgtheater aufgeführt werden sollten. Das gelang nicht ganz: Er wurde ein Journalisten-Poet. Ironische und dahingeplauderte Impressionen waren seine Spezialität, über die Wiener Bürger an der Sirk-Ecke, über die Sonntagsausflüge in die Praterauen, die Pariser Gesellschaft. Er war also zunächst Stimmungsfeuilletonist, alles andere als ein politischer Zeitchronist. Man konnte Geld mit solchen Texten verdienen, aber dem hohen Ideal von einer dichterischen Existenz entsprach das nicht. Doch bleibt die Frage: Dachte er auch in dramatischen Kategorien, als er seine politischen Vorstellungen von Judenstaat und Zionismus in Worte fasste?
Das Leben, das er in Wien führte, war nicht untypisch für jemanden aus der Metropole des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts: Es war ein Leben aus Widersprüchen. Wie viele in seiner Schicht lebte er diese Widersprüche, zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst, auch in vollen Zügen aus. Geht es noch krasser als bei Theodor Herzl? Als Jude aus Budapest zugewandert, schloss er sich einer deutschnationalen Burschenschaft an und trug diese Sozialprestige versprechende deutschnationale Identität mit Stolz, bis ihn die antisemitischen Exzesse zwangen, damit Schluss zu machen. In der Gesellschaft gerierte sich der gut aussehende großgewachsene Mann als Dichter-Dandy, Ästhet und Snob, der mit Verachtung auf die nicht assimilierten „kleinen hässlichen Juden und Jüdinnen“herabsah. Dazu seine Heirat mit einer Jüdin aus einer neureichen Familie, die all das symbolisierte, was er am Judentum verabscheute, und die er mit der Zeit zu hassen begann. Einer also, der Distanz zu Religion und Glaubensgenossen hielt und dennoch genau dem Typus des Wiener jüdischen Bourgeois mit jüdischen Freunden, jüdischer Frau und jüdischer Karriere entsprach, der seine Herkunft nicht abschütteln konnte und das Gefühl hatte, in einem Ghetto mit unsichtbaren Mauern zu leben.