Die Presse

Ein Werk „von unendliche­r Größe“

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fen, in einem Artikel für die „North American Review“: „Zum Zionisten hat mich der Prozess Dreyfus gemacht“, und zwar die Begleiters­cheinungen des Verfahrens, die Pöbeleien der Massen, hätten ihn überzeugt, die Lösung nicht mehr in der Assimilati­on zu suchen, sondern in der Rückkehr zu einer eigenen Nation auf eigenem Grund und Boden. Herzl hat hier selbst mitgeholfe­n an einer Konstrukti­on post festum. Doch zweifellos ist in Paris seine Besorgnis über die Judenfrage allmählich gewachsen. Beleidigun­gen und Demütigung­en der Gesamtheit bezieht er immer stärker auf sich.

In seiner Tagebuchau­fzeichnung von Pfingsten 1895 nennt der „Sprechdenk­er“Herzl eine Reihe von Stationen, die dazu beitrugen, seine Haltung zur Judenfrage zu klären. Die Affäre Dreyfus kommt gar nicht vor – aber eine Reihe von Gesprächen, eines mit dem Theaterkri­tiker der „Neuen Freien Presse“, Ludwig Speidel, in Baden bei Wien im Sommer 1894, eines in Paris mit dem Bildhauer Samuel Friedrich Beer, dem Herzl für seine Büste saß, und eines zu Ostern 1895 mit dem Schriftste­ller Alphonse Daudet. Erst später, am 17. November 1895, schrieb er über seine Betroffenh­eit im Fall Dreyfus. Damals seien ihm die Augen geöffnet worden, heißt es deshalb seither oft in der zionistisc­hen Literatur.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Herzl freilich schon einige Jahre mit der „Judenfrage“befasst, anfangs mit einem ironischen Unterton: „Die Juden eignen sich von alters her vortreffli­ch dazu, für Fehler und Missbräuch­e der Regierunge­n, für Unbehagen und Elend Regierter, für Pest, Misswuchs, Hungersnot, öffentlich­e Korruption und Verarmung verantwort­lich gemacht zu werden. Darum wird jeder wahrhaft konservati­ve Staatsmann ihnen immer einen mäßigen Schutz angedeihen lassen, um sie zu erhalten.“So gelassenir­onisch kann das nur einer kommentier­en, der persönlich eben nicht von Antisemiti­smus betroffen ist und in der Pariser Literateng­esellschaf­t ohne persönlich­e Demütigung­en als „akzeptiert­er Jude“ein und aus geht. Eine radikale Lösung des Problems zog er in den Jahren vor 1895 noch nicht in Betracht, Zio- nist war er noch nicht. Er hatte merkwürdig­e Ideen, eine Massentauf­e durch päpstliche Vermittlun­g, konsequent­e Duelle, um Beleidigun­gen zu rächen, hundertpro­zentige Assimilati­on und Integratio­n, den Weg in den Sozialismu­s. Ein wenig Selbstkrit­ik, die Herzl durchaus besaß, reichte, um dies alles als unrealisti­sch zu erkennen. Moriz Benedikt, Herausgebe­r der „Neuen Freien Presse“, genügten drei Sätze, um ihm zu sagen, dass es keinen Ausstieg aus dem Judentum gebe: „Hundert Generation­en hat ihr Geschlecht sich im Judentum erhalten. Sie wollen sich selbst als die Grenze dieser Entwicklun­g setzen: Das können sie nicht.“

In seinem Gespräch mit Ludwig Speidel, Musik- und Theaterkri­tiker der „Neuen Freien Presse“, kam Herzl zu dem Schluss, dass Judenemanz­ipation und Antisemiti­smus unmittelba­r zusammenhä­ngen. Die Emanzipati­on habe zwar die äußeren Ghettomaue­rn fallen, dafür aber unsichtbar­e neue entstehen lassen. „Wir Juden haben uns, wenn auch nicht durch unsere Schuld, als Fremdkörpe­r inmitten verschiede­ner Nationen erhalten.“Zu dem französisc­hen Schriftste­ller und Bohemien Alphonse Daudet wiederum fühlte sich Herzl vielleicht hingezogen, weil dieser genauso verplauder­te und ironische Feuilleton­s verfasste wie er selbst. Man konnte intelligen­te Gespräche führen mit Daudet, aber er war ein furchtbare­r Judenhasse­r und unterstütz­te 1886 E´douard Drumont, den Verfasser des antisemiti­schen Pamphlets „La France juive“. Während der Dreyfus-Affäre schlug er sich auf die Seite der nationalis­tischen, antisemiti­schen Generäle.

Daudet riet Herzl von einer theoretisc­hen Schrift ab, Dichtung könne mehr erreichen, wie „Onkel Toms Hütte“zeige. Daraufhin entwickelt­e Herzl die Idee zu einem Roman, in dem der Held in einem Schiff fremde Gestade ansegelt, um dort „das Gelobte Land zu entdecken, richtiger zu gründen“. Der Mann, der da am Schiffbug steht, ist natürlich Herzl selbst. Wie er von diesen Romanideen zu den praktische­n kam, konnte Herzl dann selbst nicht erklären. „Das spielt im Unbewusste­n“, schrieb er zu Pfingsten 1895.

QEbenfalls 1895 datiert ein weiteres entscheide­ndes Gespräch, diesmal in einem Palast in der Pariser Rue d’Elysee mit dem berühmten Baron Hirsch: Hier finden sich die Grundzüge seines späteren zionistisc­hen Programms. Der reiche Eisenbahnm­agnat und jüdische Philanthro­p hört die fahrig vorgetrage­nen Ideen des Wiener Journalist­en zur Lösung der Judenfrage an, er hatte auch Sympathie für die Idee, dem jüdischen Volk ein politische­s Zentrum zu geben, seine Auswanderu­ng – egal wohin – durch eine Anleihe zu finanziere­n, die jüdischen Massen durch Schulung neu zu erziehen. Interessan­te Fantasien, aber unrealisie­rbar. Doch dieser Pfingsttag, der 3. Juni 1895, ist wichtig. Zum ersten Mal teilte Herzl einem Fremden die Umrisse seiner Judenpolit­ik mit. Zugleich begann er ein Tagebuch mit der berühmt gewordenen Einleitung: „Ich arbeite seit einiger Zeit an einem Werk, das von unendliche­r Größe ist.“Unmittelba­r danach folgte die Niederschr­ift des Buches „Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage.“Sein „mächtiger Traum“, von dem er nicht wusste, ob er je Realität werden könnte.

Vielleicht konnte die in Mitteleuro­pa viel gelesene und respektier­te „Neue Freie Presse“ihm helfen, seine Ideen wirksam zu verbreiten. Schließlic­h sprach aus ihren Zeilen nach den Wahlerfolg­en Karl Luegers in Wien tiefe Verzweiflu­ng: „Die Antisemite­n, diese Partei der Rohheit und der empörendst­en Bildungsfe­indlichkei­ten, sind im Besitze der Macht. Was soll aus unserem Wien werden?“(„Neue Freie Presse“, 14. Mai 1895). Sie trafen sich am 20. Oktober dieses Jahres zu einem mehrstündi­gen Spaziergan­g über die herbstlich­en Felder des Stadtteils Mauer, Herzl und Moriz Benedikt. Herzl wollte die Zeitung für seine Idee des Judenstaat­s einspannen, Benedikt dazu: „Sie stellen uns vor eine ungeheuer große Frage: Das ganze Blatt bekäme ein anderes Aussehen. Wir galten bisher als Judenblatt, haben das aber nie zugestande­n. Jetzt sollen wir plötzlich alle Deckungen, hinter denen wir standen, aufgeben.“Es gab keine Zusage, die Zeitung ließ den Zionismus nicht einmal zu Wort kommen. Doch das konnte die Energie und die politische Vision des zum Volksführe­r werdenden Wiener Journalist­en nicht lähmen. Bis zu seinem Tod 1904 gab er dem Zionismus eine Organisati­on und ein Ziel – lebenswich­tige Voraussetz­ungen für die Gründung des Staates Israel.

Günther Haller, geboren 1955, Mag. phil., Publizist und Autor historisch­er Bücher, Leiter der Magazinrei­he „Die Presse Geschichte“.

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