Das Glück lag immer nah am Schmerz
Israel wird 70, einer der jüngsten Staaten der Welt, gegründet von einem der zahlenmäßig kleinsten Völker, das in den Jahren unmittelbar vor der Staatsgründung sechs Millionen Menschen verloren hatte. Die Jugend an Jahren und das Alter seiner Geschichte ist nur einer von vielen Widersprüchen des Staates Israel. So jung diese Demokratie ist und so eindeutig die Fakten ihrer Gründung sind, so viele pseudohistorische „Narrative“ranken sich um die Fakten und verzerren sie. Doch wer unparteiisch bleiben will, muss sich an Fakten halten. Kritik ist ein Zeichen einer lebendigen, belastbaren Demokratie, der Begriff Israel-Kritik freilich ist ein undifferenziertes Kompositum, das auf kein anderes Land angewendet wird. Jedem Israel-Pauschalkritiker möchte ich eine Individualreise anraten, um das Land zu erleben, seine Städte und Menschen, ihre Lebensfreude und ihren Optimismus, trotz der ständigen Bedrohung durch Terror und die Vernichtungsfantasien ihrer Feinde.
Keine Erfahrung hat mein Leben so sehr geprägt wie meine über die Jahrzehnte wiederholten Aufenthalte in Israel, das erste Mal mit 21, zwei Jahre nach dem Sechstagekrieg. Ich kam unvorbereitet an, wie man in den Sechzigerjahren als Jugendliche unterwegs war. Als ich in dem Kibbuz nahe Aschkelon auftauchte, sagte man mir, ich müsse mich erst bei einer Agentur in Deutschland anmelden, es gebe einen offiziellen Weg; aber da ich nun einmal da war, fand man einen Weg, der den offiziellen umging. Dass man Regeln nicht blind befolgen musste, sondern sie der Situation anpassen konnte, war für mich neu und befreiend. Man nahm mich auf, als sei alles geklärt, als hätte ich immer schon zum Kibbuz gehört. Es gab kein Misstrauen, keine Distanz, keine Fragen. So selbstverständlich, mit Wärme und bedingungsloser Akzeptanz, war ich zuvor noch nirgends aufgenommen worden. Geboren 1948 in Linz. Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Salzburg. Dr. phil. Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin. Lebt in Linz und Boston. Romane: „Abschied von Jerusalem“(Rowohlt Berlin) sowie „Ausgrenzung“, „In fremden Städten“, „Haus der Kindheit“, „Familienfest“, „Wenn du wiederkommst“, zuletzt, 2016, „Die Annäherung“(alle Luchterhand Literaturverlag). man auf dem Traktoranhänger und fuhr in die Felder oder in die von Zypressen umzäunten Obstplantagen zur Arbeit. Es gab einen natürlichen Rhythmus, in dem man mit sich, mit den eigenen Kräften, mit der Natur und den Menschen im Einklang war. Man aß zusammen im Speisesaal, am Freitagabend waren die Tische weiß gedeckt, und es herrschte eine festliche Stimmung, auch in einem säkularen Kibbuz.
Noch war es eine von einem Ideal getragene Gesellschaft, in der das Staunen und die Euphorie, endlich ein eigenes Land zu haben und es aufzubauen, die Kräfte mobilisierte. Am Schabbat gingen wir an den Strand, auch dort war der Sand weich und hell wie auf den Kibbuz-Wegen, und manchmal gab es Ausflüge nach Galiläa, auf die Golan-Höhen, an den Jordan oder ins Hula-Tal. Wer denkt heute noch daran, dass das Jesreel-Tal mit seinen Eukalyptus-Alleen einmal aus malariaverseuchten Sümpfen bestand, die von den Pionieren lang vor der Staatsgründung zu fruchtbarem Land gemacht worden waren?
Die meisten Kibbuzim waren von den jüdischen Einwanderern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf gekauftem Land errichtet worden, aber der Staat, Erez Israel, war für seine Bewohner immer noch ein Wunder. Du musst die Tür nicht versperren, sagte mir eine Shoah-Überlebende in Petach Tikwa, bei der ich vorübergehend wohnte, man braucht keine Angst vor den Nachbarn zu haben, hier wohnen nur Juden. Das Glück lag immer nah am Schmerz, er konnte unvermittelt hervorbrechen, bei einem unbedachten deutschen Wort, jeder schien sich bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist. Vielleicht kam daher die Fürsorglichkeit und die Nachsicht, die mich immer von Neuem erstaunte.
Keine Gegend, die ich im Lauf der Jahrzehnte regelmäßig besuchte, hat sich in 50 Jahren so oft und so radikal verändert wie Erez Israel. In den Jahren nach dem Sechstagekrieg war der heutige Park des HinnomTals noch ein Trümmerfeld gesprengter Betonblöcke und die Altstadt Jerusalems ein Ort, den man am besten von den Zinnen der Mauern aus betrachtete. Der Platz vor der Westmauer, auch als Klagemauer bekannt, glich einer Baustelle. Und überall lag noch rostiger Stacheldraht herum, vom Unabhängigkeitskrieg, vom Sechs-Tage-Krieg und den vielen Scharmützeln dazwischen. Wenn man von der Ebene auf der schmalen Straße zwischen Felsen und Abgründen nach Jerusalem hinauffuhr, war noch das Andenken an die hohen Verluste im Unabhängigkeitskrieg gegenwärtig, als die Hagana versuchte, den belagerten Juden in Jerusalem zu Hilfe zu kommen. Die Enge öffnete sich ganz plötzlich auf die Stadt, die von erst noch spärlich bebauten, sommerlich gelben Hügeln umgeben war.
Die Schönheit der Stadt war nicht immer so offensichtlich wie heute. Gustave Flaubert nannte die Altstadt „einen von Mauern umgebenen Sarkophag mit Bergen von Unrat“, und Mark Twain resümierte: „Ich möchte hier nicht wohnen.“Erst der langjährige Bürgermeister Teddy Kollek machte die Stadt zu dem Juwel, das sie heute ist. Die Schönheit des Landes und seine Probleme sammeln sich hier wie in einem Brennspiegel. Beide Völker hängen daran mit Besitzerstolz und Liebe. Auf beiden Seiten gibt es Familien, die seit vielen Jahrhunderten in Jerusalem lebten, Land und Häuser besaßen und sich nicht vorstellen können, irgendwo anders zu Hause zu sein. Wie in jeder rasch wachsenden Stadt gab es auch in West-Jerusalem Bausünden im Lauf der Jahrzehnte, aber sie können die Magie der Stadt nicht zerstören. So jung das Land ist, es hat eine Geschichte, die aus mehr besteht als dem sogenannten Nahostkonflikt. Kaum ein anderes Land verändert sich so dynamisch, und doch verschwindet das Vorhandene nie ganz unter den Neuerungen. In Tel Aviv verbinden sich die Straßen der Bauhausvillen mit der großstädtischen Gegenwart, und gleichzeitig bleibt immer noch das provisorische Flair des Orientalischen spürbar.
Bis in die frühen Neunzigerjahre waren die unsichtbaren Grenzen zwischen Juden und Arabern durchlässig. Man fuhr aus Ostjerusalem hinaus, in die judäische Wüste nach Jericho hinunter, es gab keine Umfahrungsstraßen und keine Checkpoints. Man durfte als Nicht-Muslima die Omar-Moschee, sogar die Al-Aksa-Moschee betreten, barfuß natürlich, aber ohne Kopfbedeckung. An Samstagen, wenn in Westjerusalem Schabbat-Ruhe herrschte, ging man in die Altstadt essen, es war der Tag, an dem die arabischen Lokale den größten Umsatz machten. Man sprach nicht von Israelis und Palästinensern, so viel Ehre tat man einander nicht an, man sprach von Juden und Arabern. Aber man konnte sich über die Erwartungen unterhalten, die man an einen Friedensplan stellte. Vielleicht sagte das Gegenüber nicht genau, was es dachte, aber immerhin, man konnte reden, auch wenn man sich im Souk als Jüdin zu erkennen gab.
An dem Abend im September 1993, als Jizchak Rabin und Jassir Arafat auf dem Ra- sen vor dem Weißen Haus einander die Hände reichten und Bill Clinton wie ein zufriedener Pate lächelnd im Hintergrund stand, saß ich mit meiner armenischen Freundin auf ihrer Dachterrasse im armenischen Konvent der Jerusalemer Altstadt vor ihrem kleinen Antennenfernseher, und wir waren überzeugt, dass wir einem historischen Augenblick beiwohnten, der alles zum Guten wenden würde. Wir wähnten uns dem Frieden so nah wie dem Felsendom, dessen Kuppel ein paar hundert Meter entfernt in der untergehenden Sonne glänzte. In den nächsten Tagen traf ich einen Araber in der Nähe der Prophetengräber. Ich fragte ihn nach seiner Meinung zum Friedensabkommen. Er zuckte die Achseln. Ich fühle es nicht, sagte er, ich fühle keinen Unterschied, es bedeutet nichts. Damals schrieb ich an einem Roman über die erste Intifada. Man sagte mir, zum Zeitpunkt seines Erscheinens werde er obsolet sein, denn dann herrsche bereits Friede.