Die Presse

„Wir wissen zu wenig“

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David (sein Name wurde geändert), ein junger israelisch­er Lyriker, den ich vor einigen Jahren bei einem Autorentre­ffen in Österreich kennengele­rnt habe, lebt in Modi’in direkt an der „Grünen Linie“. Der Großteil dieser Stadt befindet sich in Israel, einige Viertel jedoch liegen jenseits der Grenze, im Westjordan­land. Wenn man in Modi’in spazieren geht, merkt man davon nichts. Die Mauer, welche „die Gebiete“von Israel trennt, befindet sich weiter im Osten, auf palästinen­sischem Territoriu­m, markiert eine Grenze, die viel realer ist als das Völkerrech­t.

Zum Spaziereng­ehen lädt die aus gesichtslo­sen Wohnblöcke­n bestehende Stadt nicht ein. Vom Gipfel des höchsten Hügels der Gegend sieht man Städte und Dörfer, die längst zusammenge­wachsen sind, Landschaft­swunden: Hier wie in vielen anderen Teilen des Landes, wo sich in meiner Kindheit noch Orangenpla­ntagen oder Felsen, Macchia, Weidefläch­en befanden, sind heute endlos scheinende Schlafstät­ten – und mittendrin die Mauer. Der Raum ist eng und wird immer enger, diesseits und jenseits der realen und der fiktiven Grenzen. 35 Kilometer sind es vom erst 1993 gegründete­n Modi’in, das heute schon 90.000 Einwohner zählt, bis Tel Aviv, 30 Kilometer bis Jerusalem.

Davids Ehefrau arbeitet dort in einer Buchhandlu­ng. David unterricht­et Kreatives Schreiben an einer kleinen Hochschule in Sderot. Dies ist der Ort, den die Hamas seit Jahren regelmäßig mit Raketen beschießt. Er liegt an einer anderen Grenze, jener zum Gaza-Streifen. Von Grenze zu Grenze ist es nicht weit. David pendelt. Etwas mehr als eine Stunde braucht er mit dem Auto, um Israel zu durchquere­n. Bei Raketenala­rm läuft er mit den Studierend­en, die in seinem Kurs sind, in den Bunker im Keller der Uni. Das ist längst Alltag und ängstigt ihn wenig.

David und seine Frau sind linke Intellektu­elle, gebildet, weltoffen. Beide waren in der Armee und haben ihren Einsatz im Westjordan­land als Schande erlebt, beide lehnen die Besatzungs­politik und die neoliberal­e Ideologie der israelisch­en Regierung ab. Und beide begleiten meine Frau und mich nicht in den arabischen Teil der Jerusaleme­r Altstadt, weil sie das als jüdische Israelis für zu gefährlich halten.

Stattdesse­n treffen wir uns in einem Kaffeehaus im jüdischen Westteil der Stadt. Es ist März, Pessach und Ostern fallen in diesem Jahr zusammen, die Stadt ist ein Hexenkesse­l. Christlich­e Pilger und orthodoxe Juden suchen voller Ekstase die Nähe zu Gott, ignorieren einander aber völlig. „Ostern? Was feiern die Christen eigentlich zu Ostern?“, fragt David. Ich bin fassungslo­s. „Du bist Israeli, hast mit deiner Frau jahrelang in Jerusalem gelebt und weißt nicht, was Ostern ist?“Seine Frau weiß es auch nicht. „Wir lernen zu wenig, wir wissen zu wenig“, sagt sie und lacht bitter. „Wir sehen die anderen nicht, wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftig­t, das ist traumatisc­h genug.“

Als David Ben-Gurion, der erste Regierungs­chef, am 14. Mai 1948 in Tel Aviv feierlich die Unabhängig­keit des Landes verkündete, war der Krieg, der als Unabhängig­keitskrieg in die Geschichte eingehen würde, längst im Gange. Seit Ende 1947 kämpften jüdische und arabische Freischärl­er in Palästina gegeneinan­der; nun würde Israel, eben erst gegründet, von den regulären Armeen aller seiner Nachbarsta­aten angegriffe­n werden, den Krieg, der bis 1949 dauern würde, aber dennoch gewinnen. Hätte Israel nicht gesiegt, wäre seine jüdische Bevölkerun­g vernichtet, bestenfall­s vertrieben worden. Das wusste jeder, Israels Feinde machten nie einen Hehl daraus. Mehrere weitere Kriege sollten folgen, so viele verlustrei­che, traumatisi­erende, dass für jeden Israeli die Zeit „vor dem Krieg“und „nach dem Krieg“jeweils – abhängig vom Alter und den Erfahrunge­n Geboren 1966 in Leningrad, UdSSR. 1971 Emigration der Familie nach Israel, 1981 Übersiedlu­ng nach Österreich. Studium der Volkswirts­chaftslehr­e. Mag. phil. Lebt als Autor und Übersetzer in Salzburg. 2015 bei Deuticke: der Roman „Lucia Binar und die russische Seele“. des Einzelnen – auf einen anderen Krieg verweisen kann. Jeder hat „seinen“Krieg, der im schlimmste­n Fall zum Maß aller Dinge wird. Dennoch ist Israel bei Weitem nicht der enge, provinziel­le Staat, wie die obige Geschichte suggeriert. In den vergangene­n 70 Jahren entwickelt­e er sich von einem armen Schwellenl­and, welches Shoah-Überlebend­en und den in den Vierziger- und Fünfzigerj­ahren aus arabischen Ländern massenweis­e vertrieben­en Juden als Refugium diente, zu einem der fortschrit­tlichsten Industries­taaten der Welt, führend im Hightech-Bereich, und dies trotz Massenzuwa­nderung, permanente­m Ausnahmezu­stand, Krieg, Terror, dem irrational­en Hass, mit dem dieser Staat immer wieder konfrontie­rt ist, und weitgehend­er Isolation in der Region.

Die sowohl erschrecke­nden als auch beschämend­en Wissenslüc­ken von David und seiner Frau haben vielleicht dennoch etwas Stimmiges, beinahe Exemplaris­ches.

„Solange in einem Herzen noch eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, so lange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, 2000 Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“So weit der Text der israelisch­en Hymne. Der Zionismus ist eine Befreiungs­ideologie. Er verspricht jenen, die jahrhunder­telang bedroht, verfolgt und fremdbesti­mmt waren, die Freiheit. Vor allem aber verspricht er den Angehörige­n einer Minderheit, die stets am Rande gestanden ist und sich auf die eine oder andere Weise mit ihrer Umgebung arrangiere­n und auf diese Rücksicht nehmen musste, ins Zentrum zu rücken und maßgeblich zu werden. Für viele Juden, die nach Israel auswandert­en, bestand die „Befreiung“unter anderem auch darin, sich nicht mehr mit den Lebenswelt­en und Befindlich­keiten von Nichtjuden auseinande­rsetzen zu müssen – etwas, was für sie in der Diaspora überlebens­wichtig gewesen war, während sie selbst von der Mehrheitsb­evölkerung oftmals nur als lebende Klischees und als Projektion­sfläche für negative Gefühle wahrgenomm­en wurden. Bedenkt man diesen Hintergrun­d, ist eine von jüdischen Israelis dem Jerusalem der Christen und Moslems entgegenge­brachte Ignoranz nicht unbedingt chauvinist­isch oder engstirnig, sondern, wiewohl zu Recht kritisierb­ar, oft Ausdruck einer nachvollzi­ehbaren Rückbesinn­ung und Selbstverg­ewisserung.

Doch dafür ist der Nahe Osten keinesfall­s der ideale Ort. „Wenn nur ein großes Gebirge zwischen uns und den Arabern wäre“, jammerte einmal eine Bekannte, die wie meine Eltern und ich in den Siebzigerj­ahren aus der Sowjetunio­n nach Israel ausgewande­rt war, um dem Antisemiti­smus und permanente­n Diskrimini­erungen zu entfliehen. „Wie schön wäre es, wenn wir auf unserer und die Araber auf ihrer Seite der Berge bleiben könnten: Sollen sie dort reich und glücklich werden, Hauptsache, sie sind weit weg und lassen uns in Ruhe.“Mit Sicherheit denken viele Palästinen­ser dasselbe über Juden . . .

Den Gründervät­ern Israels, ob nun dem Erfinder des modernen Zionismus, Theodor Herzl, oder dem ersten Staatspräs­identen des Landes, Chaim Weizmann, ob linken Politikern wie David Ben-Gurion oder Rechten wie Ze’ev Jabotinsky war die Ambivalenz ihres Projektes sehr wohl bewusst. Einerseits wollte man einen Staat, der jüdisch und ein Nationalst­aat sein sollte, anderersei­ts musste es ein Staat sein, der auf humanistis­chen Prinzipien aufgebaut, minderheit­enfreundli­ch, weltoffen und fortschrit­tlich wäre. Man wollte also so „normal“werden wie die Nichtjuden und dennoch anders als sie, also „besser“sein, weil man selbst einmal Minderheit war, weil man selbst seit ewigen Zeiten verachtet und verfolgt wurde. Steht denn nicht sogar in der Bibel der fast 3000 Jahre alte Satz: „Er [der Fremde] soll bei euch wohnen wie ein Einheimisc­her unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägypten“? Dies wäre schon ein hoher Anspruch gewesen, wenn der jüdische Staat nicht im Nahen Osten, sondern in einer menschenle­eren Gegend geplant worden wäre. Doch Theodor Herzl hat sich wie die meisten Zionisten für die „Rückkehr“in die ursprüngli­che Heimat entschiede­n. Die emotionale Bindung des jüdischen Volkes zum „Gelobten Land“war in zwei Jahrtausen­den der Diaspora niemals abgerissen.

Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, ein moderner Rechtsstaa­t, in dem jedoch gefoltert und permanent das Völkerrech­t gebrochen wird. Israels Gesetze zum Schutz von Minderheit­en gehören zu den besten der Welt, die Gleichbere­chtigung von Schwulen, Lesben und Heterosexu­ellen ist sowohl dem Gesetzgebe­r als auch der liberalen Öffentlich­keit ein besonderes Anliegen, religiöse und ethnische Minderheit­en – darunter natürlich auch Moslems und Araber – haben einen Grad an kulturelle­r Autonomie

Qwie kaum in einem anderen Land, und Frauen, die sexuelle Übergriffe erleiden, haben gute Chancen, ihren Peiniger ins Gefängnis zu bringen, selbst dann, wenn dieser, wie vor einigen Jahren geschehen, der Staatspräs­ident ist.

Doch Israel ist auch ein Land, in dem es keine Zivilehe gibt, in dem am Schabbat keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel fahren und orthodoxe Juden und ihre Parteien stets entscheide­nden Einfluss auf das öffentlich­e Leben und die Politik haben. David BenGurion hatte, obwohl selbst ein säkularer Mensch, eine gesetzlich­e Trennung von Staat und Religion verhindert. Dadurch, so glaubte er, ließen sich ultrarelig­iöse Gruppierun­gen durch den Staat besser kontrollie­ren. 70 Jahre später ist die Realität eine andere: Religiöse Fundamenta­listen kontrollie­ren in zunehmende­m Maße den Staat, nicht umgekehrt.

Israel ist ein Land, das von Menschen gegründet wurde, die verfolgt und vertrieben und deren Angehörige ermordet worden waren. Eine neue Heimat konnten sie sich aber erst erkämpfen und aufbauen, als sie selbst große Teile der arabischen Bevölkerun­g des Landes vertrieben hatten und Geflüchtet­e nicht mehr zurückkehr­en ließen. Israels Gegner agierten allerdings noch viel schlimmer: Wenn arabische Truppen 1948 auf dem Vormarsch waren, wurden jüdische Zivilisten vertrieben oder getötet – alle. Das jüdische Viertel in Jerusalems Altstadt wurde völlig zerstört, Juden bis zum Sechstagek­rieg 1967 der Zutritt zur Klagemauer verwehrt.

War die Vertreibun­g Hunderttau­sender Palästinen­ser für den eben erst gegründete­n jüdischen Staat eine Notwendigk­eit, um zu überleben? Es gibt Israelis, sogar Historiker, die dies behaupten. Ich selbst glaube nicht, dass es für ethnische Säuberunge­n eine Rechtferti­gung geben kann, Palästinen­ser haben das Recht auf eine Heimat. Doch wie kritisch ich die Geschichte Israels auch bewerten mag: Ich bin sehr froh, dass dieses Land existiert. Für uns Juden bleibt es weiterhin ein potenziell­er Fluchtraum, unsere Lebensvers­icherung. Dass viele französisc­he Juden heute nach Israel auswandern, weil sie in Frankreich durch Antisemiti­smus und Terror bedroht sind, beweist es. Ohne israelisch­en Druck hätten sowjetisch­e Juden – wie meine Eltern und ich – niemals in den Westen ausreisen dürfen. Doch es waren in erster Linie orientalis­che Juden, für die Israel seit Ende der Vierzigerj­ahre jenes Land war, in dem sie Schutz fanden, ein Land, in dem sie jedoch jahrzehnte­lang als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.

Es gibt kaum einen Aspekt israelisch­er Geschichte und Gegenwart, der nicht brüchig, ambivalent oder bizarr wäre. Als ich in den Siebzigerj­ahren in Israel zur Schule ging, wurden wir Kinder dazu angehalten, das Pluszeiche­n als umgedrehte­s T zu schreiben. So stand es auch in unseren Schulbüche­rn. Auf keinen Fall sollte dieses mathematis­che Zeichen an ein Kreuz, das Symbol des Christentu­ms, erinnern. Ist es dann noch verwunderl­ich, dass David und seine Frau nicht wissen, was Christen zu Ostern feiern?

Immerhin hat sich seit dieser Zeit vieles zum Besseren geändert. Die politische Lage mag seit Jahrzehnte­n ausweglos erscheinen, doch gibt es – trotz Hass und scheinbar nie enden wollender Gewalt – immer mehr Menschen, die sich in erster Linie als Israelis und dann erst als Juden oder Araber, Moslems oder Christen betrachten. Das und vieles andere macht immerhin Hoffnung für die nächsten 70 Jahre.

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