Sünde oder Segen?
Für Thomas Macho ist der Suizid ein Leitmotiv der Moderne. In seiner Zusammenschau der Geschichte des Selbstmords zeigt er auf, dass Bedeutung und Bewertung dieser Handlung einem beträchtlichen kulturellen Wandel unterlegen sind.
Die Moderne ist müde geworden. Risse, Widersprüche und Spalten zeigen sich überall in unserer Lebenswelt, die dank neuer Medien und Technologien verformt wird – Zeichen und Symbole, Algorithmen gaukeln uns eine Wirklichkeit vor, die längst keine mehr ist, die Akzeleration medialer Kommunikationsformen vernichtet im Grunde jedwede Kommunikation.
Der Transhumanismus, geboren aus der unheiligen Dreifaltigkeit von Mikrobiologie, Genetik und Nanotechnologie hat längst die Überwindung des Menschen im Visier – freilich anders als bei Nietzsches Übermenschen. Nicht mehr die sterblichen Menschen und die unsterblichen Götter stehen einander gegenüber, sondern der Selfmademan, das dürftige Abfallprodukt von Freiheit und Autonomie, nimmt mit seinen Selbsttechniken (Foucault) die Grenzen seines Seins in die Hand. Ray Kurzweil, einer der Hohepriester der KI-Technologien, hat dies unumwunden formuliert: „In 15 Jahren wird es möglich sein, unser biologisches Programm durch Biotechnologie zu modifizieren, was uns lang genug leben lassen wird, bis uns die Nanotechnologie befähigt, ewig zu leben.“
Die Ambivalenz der Moderne zwischen Fortschritt, Kreativität und Zerstörung betont Peter Sloterdijk etwa in seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ebenso wortgewaltig wie Slavoj Zˇizˇek, Alain Finkielkraut oder Michel Houellebecq. Freilich, auch nichts besonders Neues, hatten ja bereits – weniger spektakulär – Odo Marquard oder Charles Taylor auf diese Tendenzen hingewiesen.
Eine Nische in den zahlreichen Versuchen, das Wesen der Moderne zu entschlüsseln, hat neuerdings Thomas Macho mit dem Buch „Das Leben nehmen – Suizid in der Moderne“entdeckt. Seine mehr als verblüffende Ausgangsthese lautet: Die Frage nach dem Suizid ist ein zentrales Leitmotiv der Moderne. Freilich, dass Bedeutung und Bewertung des Suizids einem beträchtlichen kulturellen Wandel unterlegen sind, wird niemand bestreiten. Macho macht dies auch in einem kurzen Streifzug durch die Vormoderne klar, bei dem vor allem in der Antike sogenannte Scham- und Schuldkulturen aufeinandertreffen und im Christentum die Grenze zwischen Suizid und Märtyrertum unscharf bleibt.
Dies zieht sich durch die Frühe Neuzeit, wobei die Sündhaftigkeit des Suizids zunehmend in den Hintergrund tritt. Als eine Art Höhepunkt in der Entkriminalisierung sieht Macho das Edikt Friedrichs II. aus dem Jahr 1751, in dem dieser die Suizidstrafen aufhebt. Während Immanuel Kant am Suizidverbot festhält, liefert David Hume ein Plädoyer für den Freitod als einen moralisch durchaus gerechtfertigten Akt der Autono-
Thomas Macho
Das Leben nehmen Suizid in der Moderne. 532 S., geb., € 28,80 (Suhrkamp Verlag, Berlin) mie des Menschen. Ähnlich wird auch Jean Amery´ in seiner Abhandlung über den Freitod argumentieren. Freilich, Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien über Tod, Suizid und Beihilfe zu diesem sind nicht gerade die Stärken des Buches.
Wohl verweist Macho auf Albert Camus, der in seinem Essay „Der Mythos von Sisyphos“die Frage nach dem Suizid als das einzig wirkliche Problem der Philosophie bezeichnet hat. Die Frage, ob das Leben die Mühe lohne, angesichts des Lebens im Absurden gelebt zu werden, wird von Camus letztlich bejaht. Sisyphos wird den Stein immer wieder auf den Gipfel des Berges rollen. Und Jean-Paul Sartre, der die Absurdität des menschlichen Lebens auch auf den Tod ausdehnt, lehnt diesen ebenso ab wie der bedeutendste Vertreter der Thanatologie des 20. Jahrhunderts: Heidegger.
Letztlich lässt sich Heideggers These vom Vorlaufen in den Tod und damit des Todes als der äußersten Möglichkeit des Daseins, das aber zugleich auch dessen Vernichtung bedeutet, infrage stellen. Auch bleibt, wie Macho zu Recht konstatiert, Heideggers These von der Freiheit zum Tode dem Suizid gegenüber neutral. Ähnlich sum- marisch bleiben seine Bemerkungen zu Foucault, der den Selbstmord als Fest oder als Orgie empfiehlt, und dessen Aids-Erkrankung zu Spekulationen führt, ob sein Tod nicht doch ein versteckter Suizid gewesen sei.
Zurückhaltend bleibt Macho auch bezüglich des viel zitierten Buches von Jean Amery´ „Hand an sich legen“, der darin Widersprüche der „condition suicidaire“nachgeht und die paradoxen Erscheinungsformen zwischen Körper und Ich, Natur und Geist in das Spannungsfeld des den Tod Wählenden einbezieht. Amery´ hat bekanntlich 1978 den Suizid selbst vollzogen. Schade, dass hier der Tod des anderen, das Schicksal des Nahestehenden, der von Gabriel Marcel über Emmanuel Levinas bis Fridolin Wiplinger im Mittelpunkt der Überlegungen zum Tod steht, nur am Rande gestreift wird.
Machos Stärke, die man freilich auch als Schwäche interpretieren kann, liegt im Sammeln von Material, wobei offenbar der Film für ihn besondere Faszination ausübt. Filme von bekannten und weniger bekannten Regisseuren werden von Macho in einem Maß ausgebreitet, das dem Nichtcineasten jede Orientierung zu nehmen droht. Fiktion und Anknüpfen an tatsächliche Suizidfälle werden bunt miteinander vermischt und mit Streifzügen in die Literatur und Kunst vermengt. Machos Ordnungssystem, das vom Werther–Effekt über Suizid in der Schule, Krieg und Terrorismus bis zum möglichen Suizid der gesamten Menschengattung reicht, die angesichts der atomaren Bedrohung in greifbarer Nähe steht, verwirrt eher, da nur wenig Zusammenhang zwischen den einzelnen Phänomenen hergestellt wird.
Gewiss, die Ausführungen über den Selbstmordterrorismus beziehungsweise über die Stammheimaffäre bieten interessante Details, tragen aber wenig zur Erklärung des Phänomens Terrorismus durch Selbstmordattentäter bei.
Ein eigenes Kapitel hat der Autor dem Problem des assistierten Suizids gewidmet, indem er einen Gestaltwandel des Liebestodes postuliert. „Man lässt die Leute nicht mehr in Frieden sterben“, äußert sich sogar der erzkonservative Philosoph Robert Spaemann, ganz zu schweigen vom Theologen Hans Küng, der das Recht auf eine autonome Entscheidung auch am Lebensende betont. Denn es gibt auch einen assistierten Tod aus Liebe. Für Macho bleibt die Umwertung des Suizids in der Moderne deren wichtigster Grundzug, wobei für ihn der Glaube an persönliche Unsterblichkeit seine Faszination weitgehend eingebüßt hat, auch wenn die zunehmende Säkularisierung mit der Forderung „Mein Leben gehört mir“in vielerlei Hinsicht diskutierbar bleibt.
Ob dies bereits einen Weg zum Transhumanismus oder ein uneingeschränktes Bekenntnis zur begrenzten Autonomie des Menschen bedeutet, bleibt offen. Alles in allem: Weniger wäre mehr, und der Suizid als Grundzug der Moderne bleibt weiterhin im Dunklen.