Vom Mauerfall nicht überrascht
Meisterliche Biografie: William Taubman stellt nicht nur den Staatsmann, sondern auch den typisch sowjetischen Menschen vor.
Im Jahr seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1978 legte der Dissident Alexander Sinowjew im Westen seine Studie „Homo sovieticus“vor. Darin schildert er messerscharf, wie die kommunistische Herrschaft einen neuen Menschentypus geschaffen hat, der sich der Macht unterwirft und sich durch Niedertracht gegenüber Schwächeren sein Überleben in einem unmenschlichen System zu sichern versucht. Das Werk gilt nicht nur als klassische Analyse kommunistischer Herrschaft, sondern auch als führender intellektueller Beitrag zu seinem Zusammenbruch.
Ein Jahr nach dem Erscheinen von Sinowjews Buch stieß 1979 der Provinzfunktionär Michail Gorbatschow mit der Aufnahme in das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ins Zentrum der Macht vor. Wie der Politikwissenschaftler William Taubman in seiner Biografie „Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit“schildert, macht er sich keine Illusionen um den Zustand seines Landes: „Wir können so nicht weiterleben“, lautete sein fast verzweifelter Appell, nachdem er 1985 als KPdSU-Generalsekretär zum mächtigsten Mann der Sowjetunion geworden war.
Teilte Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt schon die Analyse der Dissidenten, setzte er auf Veränderung von innen. Wie er selbst einmal von sich sagte: „Ich liebe die Partei.“Sie hatte seinen Berufs- und Lebensweg bestimmt. Gorbatschow wurde 1931 in der südrussischen Region Stawropol geboren. Ein Großvater geriet in die Mühlen des stalinistischen Terrors, sein Vater kämpfte in der Roten Armee gegen Hitlerdeutschland. Als Gorbatschow dank hervor- ragender Leistungen 1950 zum Jus-Studium in Moskau zugelassen wurde, befand sich der Stalinismus im Zenit.
Im Machtzentrum der Sowjetunion lernte er nicht nur seine Frau Raissa kennen. Hier sah er auch die riesige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Kommunismus: Dass die Menschen in seiner Heimat im Nordkaukasus weiter in bitterster Armut lebten, war eine Sache. Dass es in Moskau nicht viel besser stand, illustrierte die Mangelwirtschaft noch viel eindringlicher. Hinzu kam ein Klima der Unterdrückung und Angst, das den „Homo sovieticus“gebar.
Gorbatschow erkannte die Fehler des Systems frühzeitig. Was er nicht erkannte, war, dass das System der Fehler war. Nach Abschluss der Universität kehrte er nach Stawropol zurück und versuchte unermüdlich, Verbesserungen herbeizuführen. Er attackierte Funktionäre für ihre Versäumnisse, er lamentierte mit einfachen Genossen über ihre Trägheit, er zeigte sich unempfindlich gegenüber den Verlockungen der
QMacht. Taubman macht keineswegs einen Heiligen aus Gorbatschow: Er überschätzte sich im selben Ausmaß wie er seine Gegner unterschätzte (Jelzin!), er war eitel, uneinsichtig und ebenso ungeduldig wie undankbar ausgerechnet zu seinen engsten Mitstreitern. Ausführlich zitiert Taubman aus den Tagebüchern des Gorbatschow-Beraters Anatoli Tschernajew, der irgendwann klagt: „Ein kleines Dankeschön wäre schon einmal nett.“
Aber was zählt das schon im Vergleich zur Lebensleistung eines Mannes, der tatsächlich die Welt verändert hat? Nicht alles davon war geplant. So weist Taubman nach, dass Gorbatschows historisches Verdienst an der Befreiung Osteuropas vom Kommunismus sich darauf beschränkt, sie nicht verhindert zu haben. Frühzeitig erkannte er, dass angesichts der Vielzahl der Probleme der Sowjetunion der Gürtel der Satrapenstaaten nicht zu halten war. Als die Berliner Mauer fiel, kommentierte er: „Ich bin nicht überrascht. Sie haben das Richtige getan.“
So ekstatisch („Gorby-Mania“!) ihn der Westen bejubelte, so sehr warfen ihm seine Gegner die Zerstörung des sowjetischen Imperiums vor. „Glasnost“und „Perestroika“sind im postsowjetischen Raum umstrittene Begriffe geblieben. Viele hier halten es eher mit dem heutigen russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Der Untergang der Sowjetunion war die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts.“
Gorbatschow erkannte, dass die Sowjetunion ein Unrechtsstaat war. Dass er in der Analyse besser als in den Schlussfolgerungen war, schmälert seine Leistungen nicht. Erst lange nach Verlust seiner Macht erkannte er: „Bis es in Russland eine Demokratie geben wird, wird es vielleicht noch 200 Jahre dauern.“Dass sich das Land auf diesen Weg machen konnte, bleibt sein Verdient. Taubmans meisterliche Biografie würdigt ihn dafür als einen guten und anständigen „Homo sovietcus“.