Hinter dem Wilden Kaiser, am grünen Inn
Tirol. Kufstein reizt mit seiner kleinen Altstadt und seinem großen Kulturbetrieb. Untertags geht’s am Inn entlang mit dem Radl, am Abend in die Operette oder ins Konzert. Mitternachts streift man mit dem Nachtwächter herum.
Endlich hatte sie es: Blumenmädchen Eliza entschlüpft kein derbes Vorstadtwienerisch mehr, kein „es greant so grean“, sondern ein elegantes „Es grüünt so grüüün“. Welch’ Erlösung! Nicht nur für Professor Higgins. Sondern auch fürs Publikum, schwärmt ein Gast aus Baden, „das hat nicht nur applaudiert in diesem Moment – sondern geradezu gejubelt“. Und sei fast von den Sitzen aufgesprungen im Open-AirTheater auf der Kufsteiner Festung. Wo sie „My Fair Lady“nicht im originalen Englisch, sondern im wienerischen Dialekt gegeben haben. Das war 2014.
„Seitdem fahren wir jedes Jahr nach Kufstein. Immer zum Operetten-Sommer.“Sie und ihr Mann sind Touristen wie aus dem Bilderbuch, wir haben sie als zufällige Sitznachbarn in der Kufsteiner Touristenhochburg Nummer zwei (nach der Festung) kennengelernt – dem Wirts- und Weinhaus Auracher Löchl. Dass die zwei nach Kufstein kamen, beruhte eher auf Zufall. Salzburg, Innsbruck und München bildeten das Dreieck regelmäßiger Städtetrips. Und an Kufstein – genau im Zentrum jener glorreichen drei gelegen – düsten sie immer irgendwie vorbei. Bis sie in einem Prospekt von dieser Aufführung „My Fair Lady im Dialekt“lasen, interessehalber mal buchten – und seitdem zu Kufstein-Fans avancierten.
So ergeht es vielen. Jahrelang an der Tiroler Grenzstadt zu Bayern vorbeigedüst, dann doch einmal hineingeschnuppert – und sich dann ein bisschen in die 19.000-Einwohner-Stadt verschaut. Nicht nur wegen der vielfältigen Kultur-Events und international bekannter Musik- und Aufführungsorte wie dem Passionsspielhaus Erl mit seinem Nachkriegsmodernebau und dem Festspielhaus Erl mit seiner modernen Architektur (Bild oben). Und nicht nur wegen der idealen Ausgangslage für Bergwanderungen und Mountainbike-Touren in der 20 Minuten entfernten Ferienregion Wilder Kaiser sowie des sich gleich anschließenden Kitzbühel. Sondern Kufstein und sein Umland stehen als Ziel an sich. Weil es beispielsweise einfach lauschig und romantisch ist, durch die wenigen alten Gassen (Kufstein besitzt die kleinste Altstadt aller österreichischen Städte) zu schlendern – freilich am Abend erst, wenn die Besichtigungs-Omnibusse wieder abgedampft sind. Eine wunderbare Ruhe herrscht dann.
Kann sein, dass man unterwegs einem Nachtwächter namens Harald Löffel begegnet. Der ist im normalen Leben ein sehr ausgeschlafener Mensch, tritt abends jedoch, wenn es dunkel geworden ist, 90 Minuten lang in Umhang, Laterne sowie natürlich Hellebarde auf und erzählt all jenen, die seine berühmte Nachtwächterführung gebucht haben, Geheimnisse der Stadt und der Region, die selten in einem Reiseführer stehen. Etwa die gruselige Legende, wie der Wilde Kaiser entstanden ist.
Oder die Munkeleien über die sagenhafte Liebesfähigkeit des ungarischen Banditen Sandor´ Rozsa,´ dessen Aura durch die Festungsmauern hindurch bis zur Kufsteiner Damenwelt im Tal unten gedrungen sei. Die Nackenhaare soll er ihnen nur durch das Wissen über seine Nähe aufgerichtet haben, angeblich. Der magyarische Schinderhannes (Robin Hood wäre etwas zu hoch gegriffen) saß von 1859 bis 1865 hier ein und soll es ganz gut gehabt haben in seiner Zelle, wie heute noch getuschelt wird.
Aber das berühmte KufsteinLied („Kennst du die Perle, die Perle Tirols?“) wird er in seinem Kerkerloch trotzdem nicht gesungen haben – wurde ja auch erst 1948 kreiert, dieser Hit, und erst in den 1950er-Jahren richtig berühmt. Dann aber gleich in einem Maße, dass bis heute rund 100 Millionen Tonträger verkauft und damit der Name Kufstein im wahrsten Sinn des Wortes in aller Munde gebracht wurde. Weshalb man dem Komponisten Karl Ganzer für diese Marketinggroßtat vollkommen zu Recht ein Denkmal errichtete und zwar direkt vor dem Auracher Löchl in der Römergasse 5. Denn dort wurde es besonders häufig auf der Ziehharmonika gespielt und wird es heute noch voller Fröhlichkeit (anfangs) und Rührseligkeit (später am Abend dann) gesungen.
Die Badener Stammgäste, mit denen wir in besagtem Auracher Löchl hocken, wissen natürlich, dass die 1492, im Jahr der Entdeckung Amerikas, gegründete Traditionsgaststätte bisweilen voll von ausschließlich Touristen ist. „Aber erstens sind wir ja selbst welche“, sagt sie lachend, „und zweitens ist das Unglaubliche daran, dass es trotz der vielen Besucher wirklich gut schmeckt!“Weshalb das vielleicht berühmteste Wirtshaus der gesamten Alpen auch jede Menge einheimischer Stammgäste aufweist. Statt billig abzusahnen lieber die Tiroler Spezialitäten mit hoher Lebensmittelqualität gut aufzukochen ist des Wirts Devise.
Ein weiteres Muss, am besten gleich hinterher absolviert: eine Visite des Stollen 1930, der laut Eigenwerbung größten Gin-Bar der Welt gleich im Haus neben dem Auracher Löchl. Allerdings: Wir probierten zu viert sechs verschiedene Kreationen – nicht alle, aber doch ein paar begeisterten wirklich. Ein wahrer Genuss ergibt sich jedoch auf alle Fälle, wenn man auf allzu Ausgefallenes verzichtet, sondern sich besser einen der feinen Klassiker hinter die Binde kippt und die ausgefallene Atmosphäre genießt – das „Ambinente“, wie ein Gast mit schwerer Zunge meinte.
Wie jedoch die KnödelSchweinsbratenRipperlGinundsoweiter-Kalorien schnell wieder abbauen? Am besten am nächsten Vormittag ein Fahrrad leihen und den Inn entlangradeln – allein schon deshalb, weil es so wunderbar unkompliziert ist: Man kann sich auf der Route nicht verfahren. Und man weiß ganz genau: So viele Minuten, wie man Richtung Innsbruck tritt – so viele Minuten braucht man auch wieder zurück. Außerdem ist die Strecke dermaßen flach, dass man wirklich kein E-Bike benötigt – höchstens bei starkem Gegenwind. Und je nach- dem, aus welcher Richtung die Brise gerade weht, ist ewig weit die Heldenorgel an der Festung zu hören: Sie wurde 1931 errichtet und ist seit 1971 mit 4301 Pfeifen und 46 Registern ausgestattet – die größte Freiluft-Orgel in der Welt. Noch ein Rekord, neben dem Gin. Kleiner als die ganze Welt macht es der im Jahre 788 als „Caofstein“urkundlich erstmals erwähnte Ort, der zuerst zu Bayern, dann zu Tirol, dann wieder zu Bayern und erst seit 1814 endgültig zu Tirol gehörte und bereits seit 1393 eine Stadt ist, offensichtlich nicht.
Die Heldenorgel wird jeden Tag um zwölf Uhr mittags etwa eine Viertelstunde lang gespielt, wobei als Finale im Gedenken an die gefallenen Soldaten beider Weltkriege stets „Ich hatt’ einen Kameraden“ertönt. Wem so etwas zu sehr in den Ohren klingt, kann sich ja bei den ersten Takten aufmachen und zur Stadtsparkasse am Oberen Stadtplatz 1 stapfen, denn dort, wo der Bau einst als ein Hotel namens Egger diente, ist die schönste Jugendstilfassade Tirols zu bewundern.
Dass man zur in 90 Metern Höhe auf einem Felsen thronenden mittelalterlichen Festung Kufstein hinaufmuss – entweder zu Fuß oder mit dem Schrägaufzug – erscheint nicht als Pflicht, sondern als höchstes Vergnügen, denn: Der Rundgang in der im Jahr 1205 erstmals als Burg erwähnten Stätte, die bis 1522 zur Festung ausgebaut wurde, verdient ein Prädikat der höchsten Güteklasse, er ist schlichtweg – spannend! Vor allem fasziniert der Rückblick auf die Geschehnisse während der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, als ungarische Dissidenten und Aufsässige hier eingesperrt worden sind. Ja, auch Räuber und Revolutionär Sandor´ Ros-´ za. Und wenn an dessen zu besichtigender Zelle grantelnde Männer ihre Frauen weiterzerren, dann hat das oftmals nichts damit zu tun, dass Geschichte sie langweilt und sie rasch auf ein Bier ins Festungsrestaurant einkehren möchten, sondern an der Aura, die hier noch immer herumspukt, angeblich.