Zahnlücken und Zecken im Ohr
Ab heute schreibt hier Humorzeichner, Autor und Bachmann-Preisträger Tex Rubinowitz aus Lissabon über den Song Contest. Sampsons Lied ist prachtvoll, es ragt wohltuend aus einem bizarren Umfeld.
Zeichner und Autor Tex Rubinowitz schreibt ab heute über den Song Contest – das „letzte große Möbel einer korrodierenden Fernsehwelt“.
Heute beginnt mit dem ersten Semifinale der 63. Eurovision Song Contest in Lissabon, das letzte große Möbel in einer korrodierenden Fernsehwelt, nachdem die Raketen für die Mondlandungen längst verschrottet sind, Mondlandungen auch niemanden mehr hinterm sprichwörtlichen Ofen hervorlocken können, ein Fossil, bei dem die letzten Gelegenheitszuschauer immer daran erinnert werden, dass Fernsehen und insbesondere der ESC einmal eine alles und jeden verbindende Verabredung war, man irgendwann im Mai frisch gebadet Samstagabend mit den Eltern vor dem damals so genannten Empfangsgerät saß und seltsamen, schrillen Ritualen beiwohnte, Trickkleider sah und Sprachen hörte, die man nicht verstand, und am Ende wurden nach einem undurchschaubaren System endlos massenweise Punkte herumgeschoben, und irgendjemand wurde Sieger oder Siegerin, und man ärgerte sich regelmäßig, dass es nicht der eigene Favorit war, und wunderte sich über sich selbst, wie man den ganzen Abend auszusitzen in der Lage war, weil man sich ihm trotz Skepsis dennoch nicht ganz entziehen konnte, sich aber schwor, dass das die letzte Schlagersause gewesen sein würde, sie künftig ohne einen an einem vorüberziehen würde wie ein Schiff in der Nacht.
Vielleicht hat man das Ganze dann tatsächlich ein paarmal ausgelassen und gehofft, dass alles irgendwann sowieso von allein obsolet oder implodieren wird, aber es ist immer noch da, wie Zecken im Sommer, Haselnüsse im Herbst, Wasserrohrbrüche im Winter, im Mai wird wieder gesun- gen. Zumindest ignorieren kann man das Spektakel nicht, eine Faszination geht von ihm aus, wie ein Auffahrunfall, zumindest ohne Tote, nur mit ein paar interessanten Schürfwunden und Beulen. Beim heutigen Semifinale singen 19 Nationen um zehn Finalplätze, und der Abend ist insofern interessant, weil einerseits Cesar´ Sampson für Österreich singt, andererseits man aber auch schon die kommende Siegerin hören wird, davon später mehr.
Sampson, 1983 in Linz geboren, hört man leider nicht mehr seinen oberösterreichischen Dialekt an, dafür hat er ein prachtvolles Diastema, also eine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen, ein Agnetha-Reminiszenz-Diastema, denn die blonde Abba-Sängerin hatte 1974, als sie mit Waterloo beim ESC gewann, ebenfalls eines, das dann im Lauf der kurzen Karriere Abbas wie von Zauberhand verschwand, Sampson trägt es stolz weiter, auch sein Lied ist prachtvoll, es ragt wohltuend aus einem bizarren Umfeld aus estnischen Opernschreckschrauben, tschechischen Plastiktrompeten und Schweizer Rockpathos heraus. Sampson war bereits zweimal Teilnehmer, als Backgroundsänger für Bulgarien, was allerdings nichts heißt, weil der Chor nur die Lippen zu bewegen hat, alles andere ist technisch offenbar zu kompliziert, immerhin sind ihm dadurch zwölf Punkte aus Bulgarien gewiss. Noch gewisser hingegen ist Netta Barzilais Finaleinzug, da sind sich alle einig, Wettbüros wie Auskenner, Netta kommt aus Israel, und ihr Song „Toy“beginnt als alberne Animiernummer a` la Ententanz, platzt dann aber im Refrain dermaßen mächtig wie ein Wasserrohrbruch, bohrt sich wie eine Zecke ins Ohr und ins Unterbewusstsein und bleibt dort sehr lang haltbar wie eine Haselnuss, zumindest bis Samstag, dem Finaltag.