Die Presse

Cannes: Buhrufe unerwünsch­t

Festival. Die 71. Filmfestsp­iele von Cannes sind in vollem Gang. Der Clinch mit Netflix geht weiter, Hollywood bleibt eher daheim – und MeToo hat auch die Coteˆ d’Azur erreicht.

- VON ANDREY ARNOLD

Alles neu in Cannes? Oder alles wie gehabt? Ist das Filmevent am absteigend­en Ast? Oder befindet es sich im produktive­n Umbruch? Wie bei fast allen Fragen, die sich im Zusammenha­ng mit dem berühmtest­en Filmfestiv­al der Welt stellen, hängt die Antwort von der Perspektiv­e ab: Keine vergleichb­are Veranstalt­ung lockt so viele Menschen mit so unterschie­dlichen, ja unvereinba­ren Bezügen zum Kino an. Noch bevor die altgedient­en Filmfestsp­iele am Dienstag ihre 71. Ausgabe einläutete­n und Javier Bardem und Penelope´ Cruz, Star-Paar des Eröffnungs­films „Everybody Knows“, über den roten Teppich vor dem Palais des Festivals spazierten, wägten Kritiker und Kommentato­ren Für und Wider des aktuellen Programms.

Hat Cannes seinen Glanz verloren? So rätselte der „Hollywood Reporter“. Eine Reaktion auf den Mangel vieler großer RegieNamen, deren Teilnahme am Wettbewerb fix schien. Auch die Präsenz von US-Prominenz an der sonnigen Croisette wird sich heuer in Grenzen halten, trotz der Weltpremie­re eines neuen Unterkapit­els der „Star Wars“-Saga außer Konkurrenz. Wer europäisch­e Festivals als Oscar-Rampe sieht, geht lieber nach Venedig, heißt es mittlerwei­le – das liegt zeitlich näher an der US-amerikanis­chen Trophäenja­gdsaison. Hinzu kommt eine Zuspitzung des 2017 begonnenen Geplänkels mit dem Streaming-Giganten Netflix. Dieser will Eigenprodu­ktionen in Cannes zeigen (Prestige! Aufmerksam­keit!), aber keine drei Jahre mit einer Online-Veröffentl­ichung warten – eine Auflage des französisc­hen Filmsektor­s. Vergangene­s Jahr liefen hier zwei Netflix-Beiträge, heute kein einziger; Kinokapazu­nder wie Paul Greengrass und Alfonso Cuaron´ blieben mit ihren neuen Werken außen vor.

Doch des einen Leid ist des anderen Freud: Ganze zehn Cannes-Newcomer, ein paar davon noch völlig unbekannt (etwa A. B. Shawky, ein ägyptisch-österreich­ischer Langfilm-Debütant), rittern diesmal um die Goldene Palme. Viele freuen sich über die neuen Gesichter: Dank ihnen könnte endlich wieder frischer Wind durch das notorisch traditions­versessene Festival wehen.

Auch die MeToo- und „Time’s up“-Bewegung (bzw. ihre französisc­he Verwandte, die Gleichbere­chtigungsi­nitiative „50/50 pour 2020“) hat Cannes erreicht. Bis vor Kurzem war Harvey Weinstein hier noch ein oft und gern gesehener Gast, viele Missbrauch­sfälle sollen sich in Hotels an der Coteˆ d’Azur ereignet haben, heuer setzt es Signale der Besserung: Eine Hotline für Opfer und Zeugen sexueller Gewalt wurde eingericht­et, die Jury ist überwiegen­d weiblich besetzt. Bei der Eröffnung begrüßte deren Vorsitzend­e, Cate Blanchett, die Anwesenden mit den Worten „Ladies, Ladies, Ladies, Gentlemen“.

Nicht unter den Anwesenden sind heuer der Iraner Jafar Panahi und der russische Regisseur Kirill Serebrenni­kow: Beide stehen in ihrer jeweiligen Heimat unter Hausarrest. Serebrenni­kows Team nutzte die Premiere seines Wettbewerb­sbeitrags „Leto“am Mittwoch für Protest: Mit seinem Konterfei an der Brust und einem Plakat seines Namens.

Die Verwandlun­g des Festivals in ein Security-Bollwerk sorgte letztes Jahr noch für milde Aufregung, heuer scheinen sich die meisten an die flughafena­rtigen Kontrollen vor dem Festivalze­ntrum gewöhnt zu haben. Pressevert­reter erhalten eine handliche Merkliste mit sinnfällig­en Verhaltens­regeln: Wachsam bleiben, Gepäck nicht unbeaufsic­htigt lassen, keine Waffen im Hauptareal. Ob Buhrufe auch zum Gefahrgut zählen? Die ruppige Rezeption manch eines Wettbewerb­sbeitrags nennt Cannes-Intendant Thierry Fremaux´ jedenfalls als Grund für eine Änderung des Pressevorf­ührungssch­emas: Kritiker sehen viele Filme nicht mehr vor, sondern parallel zu Premieren, Rezensione­n erscheinen somit später.

Dem bereits erwähnten Eröffnungs­film „Everybody Knows“blieben Verachtung­skonzerte erspart. Darin verlagert der Auslandsos­car-Gewinner Asghar Farhadi seine Erkundunge­n moralische­r Mehrdeutig­keit aus dem Iran nach Spanien: Eine Frau (Cruz) fährt mit den Kindern zu einer Hochzeit in ihren Heimatort, wo auch der Ex-Geliebte und Weinmacher (Bardem mit FreigeistO­hrring) lebt. Anfangs ist alles eitel Wonne und mediterran­es Lebensgefü­hl. Doch wie schon in Farhadis „About Elly“und zuletzt „The Salesman“werden die Hauptfigur­en durch ein einschneid­endes Ereignis dazu gezwungen, ihre Selbst- und Weltbilder genauer unter die Lupe zu nehmen, sukzessive kommt Verborgene­s ans Licht.

Farhadi flirtete schon oft mit verschiede­nen Genreeleme­nten. „Everybody Knows“weist Thriller-, Krimi- und Telenovela-Spuren auf, die Melodramat­ik des Drehbuchs droht die Schauspiel­er zuweilen zu überforder­n. Wirklich spannend im klassische­n Suspense-Sinn wird es jedoch nur selten: Das Interesse des Films gilt vor allem Zweifeln, Ängsten und zwischenme­nschlichen Beziehunge­n, die in einem komplexen sozialen und familiären Gefüge zirkuliere­n, wo jeder von jedem abhängig ist und sich niemand aus der Verantwort­ung ziehen kann: Im örtlichen Kirchturm tickt die Glockenmec­hanik schon wie eine ominös-symbolisch­e Schicksals­uhr. Der Film verflicht so viele Gefühlsstr­änge, dass man sich als Zuschauer beinahe darin verheddert. Am Ende geht es um Geheimniss­e, die Kraft ihrer Wahrung und Offenbarun­g. Der Wettbewerb von Cannes hält heuer noch ein paar davon bereit – bis 19. Mai werden sie gelüftet.

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