Auch der Faschismus war einmal Zeitgeist
Geschichte wiederholt sich nicht einfach, die totalitäre Versuchung lauert heute auch in Algorithmen, der EU oder Lebensbilanzsuiziden: Eine Ergänzung zu Köhlmeiers „Flüchtlingsrouten-Sager“.
Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wirft immer wieder die Frage auf, ob sich in der Geschichte etwas wiederholt. Sind in der Gegenwart Anzeichen einer neuen verhängnisvollen Entwicklung schon spürbar? Man muss in solchen Fragen vorsichtig sein. Es käme darauf an zu betrachten, inwiefern politische Konzepte, Ideologien, kollektive Gefühlslagen und Stimmungen, die die Politik der 30er-Jahre charakterisierten, noch bedeutsam sind oder wieder werden könnten. Im Folgenden sollen nun ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige dieser Faktoren auf ihr Gefahrenpotenzial für die Gegenwart befragt werden.
1. Die nationalistische Versuchung: Das Konzept des Nationalismus, wie es im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, provoziert immer die Frage nach einer ethnischsprachlichen Homogenität und Hegemonie, die andere Formen von Zugehörigkeiten nur schwer ertragen kann. Das AnschlussAusschluss-Trauma dürfte aktuell allerdings keine Rolle mehr spielen, der Deutschnationalismus stellt in Österreich bis auf Weiteres keine mehrheitsfähige ideologische Position dar. Keine Frage allerdings, dass wir in mancherlei Hinsicht in Europa Tendenzen der Renationalisierung verspüren. Allerdings erscheint es sinnvoll, zwischen Nation in einem staatsrechtlichen Sinn und Nation als ideologischem Konstrukt zu unterscheiden. Auch der Beobachtung mancher Zeitdiagnostiker ist Rechnung zu tragen, dass der aktuelle Nationalismus anders als der des 19. und 20. Jahrhunderts nicht aggressiv expandierend, sondern aggressiv abschottend agiert und eher zu Zerfallserscheinungen führte und führt denn zu Großreichfantasien. Die Grenze zwischen Nationalismus und einem starken Bewusstsein von Regionalität ist dabei ebenso im Auge zu behalten wie die Tatsache, dass die notwendige Überwindung des Nationalismus nicht durch dessen Transformation in einen europäischen Hypernationalismus – die EU gleichsam als neue Supernation – gelingen kann.
2. Die chung:
antisemitische VersuDer Kampf gegen den Anti- semitismus bleibt ein zentrales Moment einer menschenrechtlich orientierten Politik, ohne Ausnahmen und Relativierungen – gleichgültig, ob es sich um einen Antisemitismus von rechts oder von links, einen Antisemitismus deutschnationaler Burschenschaften oder einen islamisch inspirierten Antisemitismus handelt. Wer den einen Antisemitismus als Zwischenfall verharmlost und nur den anderen zur politischen Bedrohung stilisiert, degradiert den Kampf gegen diese Versuchung zu einer billigen Spielmarke im Meinungstausch. Die Verfolgung bestimmter Menschengruppen, die zur Logik totalitärer Herrschaftsformen gehört, muss aber nicht an religiöse und ethnische Merkmale gebunden sein. Theodor W. Adorno, selbst zur Emigration gezwungener Jude, hat darauf hingewiesen, dass unter der Perspektive einer übrigens auch von den Nazis vertretenen Ideologie der Jugend, der Kraft und der Gesundheit die Kranken und Alten im großen Maßstab zu den Ausgegrenzten, Verfolgten, womöglich auch Vernichteten der nahen Zukunft gehören könnten.
3. Die imperiale Versuchung: Keine Frage, Österreich hat heute keine imperialen Ambitionen mehr, zu den Großen und Mächtigen gehören zu wollen, erfüllt viele eher mit Unbehagen. Aber die Gedankenfigur, dass man nur als Imperium im Konzert der globalen Mächte mitspielen kann, gehört zu den Überlegungen, die den Prozess der europäischen Einigung aktuell begleiten. Bei allem Verständnis für den realpolitischen Gehalt dieser Konzepte ist vor deren Abgleiten in einen imperialen Gestus, dessen Konsequenzen nicht absehbar sind, zu warnen.
4. Die technische Versuchung: Hitler versprach, was viele versprechen: Arbeit, bescheidenen Wohlstand, Beendigung der Folgen der Wirtschaftskrise, und in vielen Bereichen – Verkehr, Infrastruktur, Mobilität, Technologie – schlicht Fortschritt. Technischer Fortschritt alleine garantiert ebenso wenig eine humane Gesellschaft wie ökonomische Prosperität. Dazu kommt, dass manche Fantasien, wie sie in den Zentralen der Internet-Konzerne gesponnen werden, in ihren transhumanistisch geprägten Optimierungsvarianten genug Gedankengut enthalten, das auch den Züchtungs- und Selektionsphantasmen der Nationalsozialisten zugrunde lag. Schlimm, dass sich etwa die Frage nach lebenswerten und nicht lebenswerten Formen menschlicher Existenz in Feldern wie etwa den Sterbehilfedebatten relativ ungeniert wieder eingeschlichen hat. Wer einen Lebensbilanzsuizid ins Auge fasst, hat sich, wenn auch aus individuellen Gründen, bis zu einem gewissen Grad ebenso dem Denken der Nationalsozialisten angenähert wie jene, die „liberale“Euthanasieprogramme propagieren.
5. Die Versuchung des Erfolgs: Hitler und die NSDAP waren – in den Augen der Zeitgenossen – scheinbar höchst erfolgreich. Das betraf die Ökonomie so gut wie die internationale Politik: Und nichts ist so attraktiv wie der Erfolg. Der (*1953 in Villach) ist Philosoph an der Uni Wien und Essayist. Zahlreiche Bücher, zuletzt „Bildung aus Provokation“. Dieser Text ist die gekürzte Version einer Rede, die er im Linzer Gemeinderat zum Gedenkjahr 2018 gehalten hat. Erfolg scheint jedem recht zu geben. Für heute bedeutet dies: Auch den Erfolgen von politischen Bewegungen, Denkweisen, Technologien, ökonomischen Konzepten, Innovationen gegenüber sollten wir immer die Option einer abwägenden Skepsis bereithalten. Gerade angesichts von Entwicklungen, die uns als unausweichlich, als Notwendigkeit präsentiert werden, sollte sich die Fähigkeit zur Kritik erweisen. Widerstand ist immer Widerstand gegen den Zeitgeist und seine Implikationen. 1938, man darf es nicht vergessen, repräsentierte der Faschismus in weiten Teilen Europas den Zeitgeist. Dieser allein stellt noch keine politische oder moralische Qualität dar.
6. Die totalitäre Versuchung: Sie wandelt – und das muss uns besonders vorsichtig stimmen – immer wieder ihre Gestalt. Während wir – zu Recht – autoritäre und nationalistische Tendenzen kritisieren, dürfen wir nicht übersehen, dass die Disposition zur totalitären Versuchung auch an anderen Stellen lauern könnte.
Freiwillig etwa unterwerfen wir uns den Algorithmen unserer digitalen Apparate, ohne zu bemerken, wie unser Leben dadurch und durch die damit verbundenen ökonomischen und politischen Interessen gesteuert, berechnet und bewertet wird. Dass Demokratie obsolet sei und durch die Herrschaft der Algorithmen ersetzt werden sollte, wird von manchen Vordenkern im Silicon Valley propagiert. Der Soziologe Harald Welzer spricht davon, dass die Digitalisierung all unserer Lebensbereiche „Übergangszonen ins Totalitäre“ermöglicht, die in eine „smarte Diktatur“führen könnten – kaum bemerkt und mit großer Zustimmung von uns allen.
Wir müssen also wachsam und vorsichtig in vielen Richtungen sein. Das ist schwierig und mühsam. Letztlich schützen nur die Stärkung des Individuums, die Verteidigung der Freiheit des Einzelnen, die Sensibilität gegen alle Formen von Vereinnahmung und Gleichschaltung, die Kritik an jeder Form kollektiver Zuschreibungen, die unbedingte Achtung der Menschenrechte und die Mündigkeit und Souveränität der Bürger vor der totalitären Versuchung.