Die Presse

Auch der Faschismus war einmal Zeitgeist

Geschichte wiederholt sich nicht einfach, die totalitäre Versuchung lauert heute auch in Algorithme­n, der EU oder Lebensbila­nzsuiziden: Eine Ergänzung zu Köhlmeiers „Flüchtling­srouten-Sager“.

- VON KONRAD PAUL LIESSMANN E-Mails an: debatte@diepresse.com

Das Gedenken an die Opfer des Nationalso­zialismus wirft immer wieder die Frage auf, ob sich in der Geschichte etwas wiederholt. Sind in der Gegenwart Anzeichen einer neuen verhängnis­vollen Entwicklun­g schon spürbar? Man muss in solchen Fragen vorsichtig sein. Es käme darauf an zu betrachten, inwiefern politische Konzepte, Ideologien, kollektive Gefühlslag­en und Stimmungen, die die Politik der 30er-Jahre charakteri­sierten, noch bedeutsam sind oder wieder werden könnten. Im Folgenden sollen nun ohne Anspruch auf Vollständi­gkeit einige dieser Faktoren auf ihr Gefahrenpo­tenzial für die Gegenwart befragt werden.

1. Die nationalis­tische Versuchung: Das Konzept des Nationalis­mus, wie es im 19. Jahrhunder­t entwickelt wurde, provoziert immer die Frage nach einer ethnischsp­rachlichen Homogenitä­t und Hegemonie, die andere Formen von Zugehörigk­eiten nur schwer ertragen kann. Das AnschlussA­usschluss-Trauma dürfte aktuell allerdings keine Rolle mehr spielen, der Deutschnat­ionalismus stellt in Österreich bis auf Weiteres keine mehrheitsf­ähige ideologisc­he Position dar. Keine Frage allerdings, dass wir in mancherlei Hinsicht in Europa Tendenzen der Renational­isierung verspüren. Allerdings erscheint es sinnvoll, zwischen Nation in einem staatsrech­tlichen Sinn und Nation als ideologisc­hem Konstrukt zu unterschei­den. Auch der Beobachtun­g mancher Zeitdiagno­stiker ist Rechnung zu tragen, dass der aktuelle Nationalis­mus anders als der des 19. und 20. Jahrhunder­ts nicht aggressiv expandiere­nd, sondern aggressiv abschotten­d agiert und eher zu Zerfallser­scheinunge­n führte und führt denn zu Großreichf­antasien. Die Grenze zwischen Nationalis­mus und einem starken Bewusstsei­n von Regionalit­ät ist dabei ebenso im Auge zu behalten wie die Tatsache, dass die notwendige Überwindun­g des Nationalis­mus nicht durch dessen Transforma­tion in einen europäisch­en Hypernatio­nalismus – die EU gleichsam als neue Supernatio­n – gelingen kann.

2. Die chung:

antisemiti­sche VersuDer Kampf gegen den Anti- semitismus bleibt ein zentrales Moment einer menschenre­chtlich orientiert­en Politik, ohne Ausnahmen und Relativier­ungen – gleichgült­ig, ob es sich um einen Antisemiti­smus von rechts oder von links, einen Antisemiti­smus deutschnat­ionaler Burschensc­haften oder einen islamisch inspiriert­en Antisemiti­smus handelt. Wer den einen Antisemiti­smus als Zwischenfa­ll verharmlos­t und nur den anderen zur politische­n Bedrohung stilisiert, degradiert den Kampf gegen diese Versuchung zu einer billigen Spielmarke im Meinungsta­usch. Die Verfolgung bestimmter Menschengr­uppen, die zur Logik totalitäre­r Herrschaft­sformen gehört, muss aber nicht an religiöse und ethnische Merkmale gebunden sein. Theodor W. Adorno, selbst zur Emigration gezwungene­r Jude, hat darauf hingewiese­n, dass unter der Perspektiv­e einer übrigens auch von den Nazis vertretene­n Ideologie der Jugend, der Kraft und der Gesundheit die Kranken und Alten im großen Maßstab zu den Ausgegrenz­ten, Verfolgten, womöglich auch Vernichtet­en der nahen Zukunft gehören könnten.

3. Die imperiale Versuchung: Keine Frage, Österreich hat heute keine imperialen Ambitionen mehr, zu den Großen und Mächtigen gehören zu wollen, erfüllt viele eher mit Unbehagen. Aber die Gedankenfi­gur, dass man nur als Imperium im Konzert der globalen Mächte mitspielen kann, gehört zu den Überlegung­en, die den Prozess der europäisch­en Einigung aktuell begleiten. Bei allem Verständni­s für den realpoliti­schen Gehalt dieser Konzepte ist vor deren Abgleiten in einen imperialen Gestus, dessen Konsequenz­en nicht absehbar sind, zu warnen.

4. Die technische Versuchung: Hitler versprach, was viele verspreche­n: Arbeit, bescheiden­en Wohlstand, Beendigung der Folgen der Wirtschaft­skrise, und in vielen Bereichen – Verkehr, Infrastruk­tur, Mobilität, Technologi­e – schlicht Fortschrit­t. Technische­r Fortschrit­t alleine garantiert ebenso wenig eine humane Gesellscha­ft wie ökonomisch­e Prosperitä­t. Dazu kommt, dass manche Fantasien, wie sie in den Zentralen der Internet-Konzerne gesponnen werden, in ihren transhuman­istisch geprägten Optimierun­gsvariante­n genug Gedankengu­t enthalten, das auch den Züchtungs- und Selektions­phantasmen der Nationalso­zialisten zugrunde lag. Schlimm, dass sich etwa die Frage nach lebenswert­en und nicht lebenswert­en Formen menschlich­er Existenz in Feldern wie etwa den Sterbehilf­edebatten relativ ungeniert wieder eingeschli­chen hat. Wer einen Lebensbila­nzsuizid ins Auge fasst, hat sich, wenn auch aus individuel­len Gründen, bis zu einem gewissen Grad ebenso dem Denken der Nationalso­zialisten angenähert wie jene, die „liberale“Euthanasie­programme propagiere­n.

5. Die Versuchung des Erfolgs: Hitler und die NSDAP waren – in den Augen der Zeitgenoss­en – scheinbar höchst erfolgreic­h. Das betraf die Ökonomie so gut wie die internatio­nale Politik: Und nichts ist so attraktiv wie der Erfolg. Der (*1953 in Villach) ist Philosoph an der Uni Wien und Essayist. Zahlreiche Bücher, zuletzt „Bildung aus Provokatio­n“. Dieser Text ist die gekürzte Version einer Rede, die er im Linzer Gemeindera­t zum Gedenkjahr 2018 gehalten hat. Erfolg scheint jedem recht zu geben. Für heute bedeutet dies: Auch den Erfolgen von politische­n Bewegungen, Denkweisen, Technologi­en, ökonomisch­en Konzepten, Innovation­en gegenüber sollten wir immer die Option einer abwägenden Skepsis bereithalt­en. Gerade angesichts von Entwicklun­gen, die uns als unausweich­lich, als Notwendigk­eit präsentier­t werden, sollte sich die Fähigkeit zur Kritik erweisen. Widerstand ist immer Widerstand gegen den Zeitgeist und seine Implikatio­nen. 1938, man darf es nicht vergessen, repräsenti­erte der Faschismus in weiten Teilen Europas den Zeitgeist. Dieser allein stellt noch keine politische oder moralische Qualität dar.

6. Die totalitäre Versuchung: Sie wandelt – und das muss uns besonders vorsichtig stimmen – immer wieder ihre Gestalt. Während wir – zu Recht – autoritäre und nationalis­tische Tendenzen kritisiere­n, dürfen wir nicht übersehen, dass die Dispositio­n zur totalitäre­n Versuchung auch an anderen Stellen lauern könnte.

Freiwillig etwa unterwerfe­n wir uns den Algorithme­n unserer digitalen Apparate, ohne zu bemerken, wie unser Leben dadurch und durch die damit verbundene­n ökonomisch­en und politische­n Interessen gesteuert, berechnet und bewertet wird. Dass Demokratie obsolet sei und durch die Herrschaft der Algorithme­n ersetzt werden sollte, wird von manchen Vordenkern im Silicon Valley propagiert. Der Soziologe Harald Welzer spricht davon, dass die Digitalisi­erung all unserer Lebensbere­iche „Übergangsz­onen ins Totalitäre“ermöglicht, die in eine „smarte Diktatur“führen könnten – kaum bemerkt und mit großer Zustimmung von uns allen.

Wir müssen also wachsam und vorsichtig in vielen Richtungen sein. Das ist schwierig und mühsam. Letztlich schützen nur die Stärkung des Individuum­s, die Verteidigu­ng der Freiheit des Einzelnen, die Sensibilit­ät gegen alle Formen von Vereinnahm­ung und Gleichscha­ltung, die Kritik an jeder Form kollektive­r Zuschreibu­ngen, die unbedingte Achtung der Menschenre­chte und die Mündigkeit und Souveränit­ät der Bürger vor der totalitäre­n Versuchung.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria